Die Teile aufsammeln und zusammensetzen

Ich muss zugeben, die Idee eines bürokratischen Kinos weckt griffige Assoziationen: Ordnung, Pedanterie, Staub, Lethargie und Entmutigung. Dearden funktionierte für David Thomsons Geschmack mithin zu reibungslos im Apparat; er unterstellt ihm einen sträflichen Mangel Temperament und Unbotmäßigkeit.

Darin folgt Thomson nicht Truffauts Argwohn, das Filmemachen vertrage sich partout nicht mit der englischen Mentalität. Nein, er ist Romantiker, er sieht die Möglichkeiten. Anderen gelang es schließlich auch, namentlich dem exzentrischen Gespann Powell & Pressburger, sich in der Industrie kreative Freiräume zu erstreiten.

In der Tat brachte Dearden einen Gutteil seiner Karriere als Vertragsregisseur bei den Ealing Studios zu und operierte auch danach vorzugsweise im Sicherheitsnetz konventioneller Produktionszusammenhänge. Michael Relph bereitete ihm, als Szenenbildner wie Produzent, dafür eine Bühne und einen Rahmen. Um sich scharte er einen eingespielten Stab von Mitarbeitern, darunter die Drehbuchautorin Janet Green oder Kameraleute wie Otto Heller (der uns hier vor ein paar Wochen schon einmal begegnete), Harry Waxman und Gordon Dines, auf dessen Beitrag in der Broschüre des Metropolis häufig hingewiesen wird. Ein solches professionelles Umfeld verhindert nicht zwangsläufig die persönliche Vision eines Regisseurs. Ist sein Werk ein Beleg für das geflügelte Wort vom Genie des Sytems? Nein, vielmehr dessen Charisma.

Erstaunlicherweise stimmte Michael Relph in Interviews dem Urteil Thomsons durchaus zu; wenngleich unwissentlich. Er beschrieb Dearden als einen "mechanischen" Regisseur, der jede Kameraeinstellung und -bewegung präzise vorbereitete. Seine Haltung habe eher der eines effizienten Technikers als der eines schöpferischen Künstlers entsprochen. Vermutlich meinte Relph dies als Lob. Er ergänzte es um einen entscheidenden Aspekt: Bei Ealing wurden die Nachwuchsregisseure in der Regel aus den Schneideräumen rekrutiert, Dearden jedoch kam vom Theater und verstand sich auf die Schauspielerführung, gerade auch bei Ensemblefilmen. Selbstkritisch fügte Relph hinzu, es sei womöglich ein Fehler gewesen, die kontroversen Themen in die "wasserdichte" Form des Thrillers zu verpacken: "We sugared the pill too commercially."

Tatsächlich regte sich gegen ihre Projekte oft massiver Widerspruch. Kein Londoner Stadtteil war zunächst bereit, eine Drehgenehmigung für „Sapphire“ zu erteilen. Ihre Filme brachen Tabus. In »Pool of London« (Unterwelt) wirft das britische Kino 1951 erstmals einen Blick in das Milieu der Einwanderer aus der Karibik (das mit dem Hauptdarsteller Earl Cameron auch seinen ersten Star erhält) und erzählt die Liebesgeschichte zwischen einem Schwarzen und einer Weißen. Die Erkundung multiethnischer Schmelztiegel setzt Dearden 1958 in »Violent Playground« (Kinder der Strasse) fort. »Victim« (Teufelskreis) von 1961war der erste britische Film, in dem Homosexualität offen angesprochen wurde. In »The League of Gentlemen« (Die Herren Einbrecher geben sich die Ehre) finden sich ein Jahr zuvor bereits verdeckte Anspielungen, die indes noch zeitgenössische Vorurteile widerspiegeln.

Einige ihrer Projekte bieten sich für einen thematischen Vergleich mit aktuellen Filmen an – von »Sapphire« lässt sich eine Linie zu »Passing« ziehen, dem Regiedebüt von Rebecca Hall; der Konflikt zwischen Medizin und religiöser Überzeugung in »Life for Ruth« (Brennende Schuld) war ein direkter Referenzpunkt für Ian McEwans Roman »The Children Act« (Kindeswohl) und die Verfilmung mit Emma Thompson -, dessen Befund wohl darauf hinausliefe, dass Deardens Filme noch stark in den Wertvorstellungen ihrer Entstehungszeit gefangen waren. Das ist ihr gutes Recht. Und besteht der Wert von Pionierarbeiten nicht darin, später übertroffen, ja überwunden zu werden? Jedoch veralten Deardens Filme deshalb nicht zwangsläufig. Manches mag heute paternalistisch anmuten, aber erzählerisch sind sie anschlussfähig. Er setzt Kinofiguren in Szene, die sich nicht auf eine Idee reduzieren lassen. Dass er schwierige Inhalte in das Gerüst einer polizeilichen oder juristischen Ermittlung kleidet, stellt sie auf eine spannungsvolle dramaturgische Basis. Diese narrative Einhegung reflektiert »Sapphire« übrigens direkt, wenn der Inspektor am Ende zum Bruder (wieder Earl Cameron) des Opfers sagt: "We didn't solve anything, we just picked up the pieces."

Gewiss, Dearden bildete keine ästhetische Vorhut. Der Spülsteinrealismus der britischen Neuen Welle (Reisz, Richardson, Schlesinger etc.) schürfte tiefer und im proletarischen Milieu, mit einer ungekannten erzählerischen Frische. Aber ich glaube nicht an die Unvereinbarkeit dieser filmischen Positionen: Dearden baute Brücken und zeigte sich aufgeschlossen für die neuen Strömungen. Während Joseph Losey und andere sich Jazzpartituren für ihre Filme komponieren ließen, tauchte Deardens rissige Nocturne »All Night Long« (Die heiße Nacht) entschieden in die Musikerszene ein. So oder so öffnen seine Filme ein Fenster in die Zeit, in der sie spielen.

Dazu trägt der Schauplatzrealismus maßgeblich bei. Thomson würde wahrscheinlich argumentieren, damit setze Dearden nur eine Tradition fort, die zum Ealing-Studiostil der frühen 1940er gehörte. Sie ist eher sacht. Eine entscheidendere und un-britische Prägung scheinen mir die semi-dokumentarischen Films Noir zu sein, die Dassin, Hathaway und Kazan nach dem Krieg für 20th Century Fox drehten. Die Arbeit an Realschauplätzen dient Dearden nicht nur zur Beglaubigung der Geschichten, die er erzählt, sie stimmt auf sie ein. Bei ihm spielt das Ambiente immer mit. »The Blue Lamp« (Die blaue Lampe) von 1950 wirkt auf Anhieb noch wie ein typischer Ealing-Nachbarschaftsfilm. Es ist eine kleine Welt, man kennt einander. Ein Bobby geht auf Zehenspitzen, um einen schlafenden Obdachlosen nicht zu wecken. Aber Dearden und der Drehbuchautor "Tibby" Clarke (der im Krieg selbst Polizist gewesen war) markieren einen Bruch mit der Studiobehaglichkeit, indem sie zeigen, wie anachronistisch sie inzwischen geworden ist. In London, das erst wenige Jahre zuvor den Blitz überstanden hat, klaffen noch Lücken in den Straßenzügen. Auch »Pool of London« trägt sich zum Teil noch in Ruinen zu. Selbst »The Square Ring«, eigentlich eine Backstage-Tragikomödie, atmet schnelle Straßenluft.

Das ist überhaupt eine Stärke von Deardens Filmen: ihr enormes, mal flottes, mal dramatisches, Tempo. Das gilt selbst für den Kostümfilm »Saraband for dead lovers« (Königsliebe), der 1948 mit allen Technicolor-Regeln bricht: breughelhaft, mit entsättigten Farben, getaucht in eine Düsternis, die zur Autopsie der Leidenschaften und höfischen Intrigen passt und aus der beim Duell am Ende unversehens ein Degen aufblitzt. „Sapphire“ ist ein nicht weniger expressiver Farbfilm. Die Montage in seinen Filmen demonstriert überdies, welches Gespür dieser Regisseur für die Reaktionen von DarstellerInnen hat. 

Deardens Handschrift zeigt sich in seiner Empfänglichkeit für Atmosphäre – das Erwachen von Städten, das Timbre der Nacht – sowie für die szenischen Details, in denen sie sich manifestiert. Ein anderer Filmemacher hätte sie nie beachtet, etwa das anfangs gleißende und dann zusehends nachmittägliche Sonnenlicht, das auf zwei der Gestrandeten im »Halfway House« fällt, während sie das Geschirr spülen; oder das titelstiftende Nachtlicht des Polizeireviers in »The Blue Lamp«, das just in dem Moment erlischt, als Dirk Bogarde dort in Haft genommen wird. In solchen Momenten, es gibt viele von ihnen, erfüllte Dearden mehr als nur die Pflicht. Im Metropolis kann man studieren, dass er auch die Kür beherrschen konnte.

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