Die Sichtbaren

Ich wollte noch nicht sofort heimkehren. Die Ausstellung regte mich zum Flanieren an. Zuvor hatte ich in so viele Gesichter geschaut und mochte einfach noch nicht aufhören damit. Kudamm und Tauentzien waren bestimmt nicht der beste Ort für meine Schaulust auf authentische Identitäten. Aber unter den Touristen und gehetzten Konsumenten nach Feierabend fand ich dennoch Gesichter, in denen ich für einen Moment lesen wollte, die mich neugierig machten auf die Leben, die dahinter steckten.

Zuvor hatte ich im C/O Berlin „Queerness in Photography“ gesehen. Die Schau interessierte mich, weil sie sie hauptsächlich auf die Sammlung von Sébastien Lifshitz zurückgeht und von ihm kuratiert wurde. Der Regisseur hat fotografische Zeugnisse vom Cross Dressing zusammengestellt, die zwischen ca. 1860 und 1980 entstanden sind. In der Ausstellung, die bereits bei den Rencontres de la Photographie in Arles zu sehen war, kommen zwei Passionen (oder sind es Mandate?) von Lifshitz zusammen.

Vor Jahren hatte er mir einmal bei einem Interview erzählt, dass er seit seiner Kindheit auf Flohmärkten nach historischen Fotografien suchte. Damals war ich erstaunt zu erfahren, sein ursprünglicher Berufswunsch sei gewesen, Fotograf zu werden. „In der Fotografie herrscht ein anderes Verhältnis zur Zeit“, sagte er, „sie kann etwas festhalten, was vergangen und tot ist. Die Vergangenheit hinterlässt in ihr einen Abdruck.“ Seine Mutter lebte ihm die Begeisterung vor. Sie „hatte die etwas morbide Angewohnheit, unser ganzes Haus mit Vergrößerungen ihrer Bilder zu tapezieren. So war unsere Familiengeschichte überall präsent.“ Größendimensionen spielten in meiner Wahrnehmung der Schau tatsächlich eine wichtige Rolle. Aber zunächst scheint mir der Impuls des Festhaltens, Vergegenwärtigens als eine Quelle des Strangs von Dokumentarfilmen zu sein, der von „Les invisibles“ (Die Unsichtbaren, 2012), der ihn als sorgfältigen Chronisten homosexueller Biographien im Frankreich der ersten Nachkriegsjahrzehnte zeigt, bis zu „Petite fille“ (Ein Mädchen, siehe „das Leben, das sie verdient“ vom 7.1. 2021) reicht. Im Delphi Lux, das gerade um die Ecke liegt, laufen sie noch bis zum 3. November in der Reihe „Sincerely Queer“. Die Ausstellung selbst ist bis zum 18. Januar nächsten Jahres mit einem umfangreichen Rahmenprogramm zu sehen.

In ihr treten Fotografie und Dokumentarfilm in direkten Dialog miteinander, namentlich Lifshitz' Porträt der Travestiekünstlerin „Bambi“ (2013) sowie sein jüngster Film „Casa Susanna“, der vor einigen Wochen in Venedig Premiere hatte. Aber damit greife ich voraus, diese Zwiegespräche entspinnen sich in den hinteren Räumen der Schau. An ihrem Anfang verblüffte mich, wie winzig die Fotos aus den ersten Jahrzehnten sind, von denen einige als Großformate vor dem Ausstellungshaus plakatiert sind. Die Originale sind meist kaum größer als eine Streichholzschachtel. Ihre schiere Anzahl ist stupend, eine Galerie von Porträts, die das Cross dressing als mutige Identitätssuche und stolze -findung bezeugt. Die Porträtierten sind unbekannt, mit Ausnahme einiger Kabarett-Künstler, deren Verwandlungskünste mit denen von Feuillades „Fantomas“ allemal konkurrieren konnten: als deren nicht-kriminelle und lebensbejahende Varianten. Namenlos mag ich die Dargestellten nicht nennen, denn sie bieten sich wissbegierig und offensiv dem Blick der Fotografen dar; gelegentlich in einer ganzen Serie. Sie probieren sich aus.

Im Ausstellungsparcours gewinnen nicht nur ungekannte Genres der Fotografie Kontur, sondern auch eine ganze, verborgene Kulturgeschichte. Es gibt mock weddings zu sehen sowie Bühnenaufführungen in Gefangenenlagern während des Ersten Weltkriegs; in amerikanischen Universitäten bildeten sich im 19. Jahrhundert eigene Freundeskreise (anscheinend waren sie damals liberaler als in Europa) und auch im ruralen Hinterland der USA posieren Cross Dresser auf Farmen, vor Heuschobern und in Stallungen, gelegentlich bilden sie auch Paare. In den USA machen mit Beginn der Tonfilmära machen spezialisierte Nachtclubs Furore, in denen Imitatoren glamouröser Hollywoodstars auftreten. Von Lifshitz hätte ich freilich erwartet, dass er weiß, dass es sich bei der platinblonden Harlow um Jean und nicht um eine(n) Gene handelt. Auf die erste geschlechtsangleichende Operation, die in den USA Aufsehen erregte, verweisen Zeitungsschlagzeilen und das Plakat zu dem Film „The Christine Jorgensen Story“, den altgediente Melo-Veteranen wie Irving Rapper (Regie), Ellis St. Joseph (Drehbuch) und Edward Small (Produktion) für United Artists drehten. Das Poster wirkt, als stamme es aus den 1950er Jahren, tatsächlich kam der Film jedoch 1970 heraus. Auf Youtube habe ich ihn mir danach angeschaut und nicht den Eindruck gewonnen, dass dieses Dreigestirn wirklich begriff, wovon es erzählte. Immerhin fällt ein Dialogsatz, der Lifshitz bestimmt gefallen müsste: „Everything changes - except photographs and things we remember.“

Beim Gang durch die Ausstellung merkte ich, wie gern ich mich über Lifshitz noch einmal mit meinem verstorbenen Kollegen Hans Schifferle ausgetauscht hätte. Er war der erste von uns, der seine Dokumentarfilme entdeckte und verstand; auf einer Viennale legte er mir leidenschaftlich „Wild Side“ ans Herz. Die Suchbewegungen des Regisseurs würde er bestimmt bis heute neugierig und fasziniert begleiten. Gewiss hätte ihn auch „Casa Susanna“ intrigiert, In der Schau läuft ein Ausschnitt, in dem sich zwei ehemalige Bewohner dieses Schutzraums für Cross Dresser über alte Fotos beugen und lebhaft Erinnerungen austauschen. Veteranen des. Dem Wohnheim ist ein eigener Raum gewidmet, in dem sich eine Schnittmenge zur Sammlung von Cindy Sherman ergibt. Sherman fand Farbfotos auf Flohmärkten und forschte intensiver über dessen Geschichte. Eine ganz einzigartige Gemeinschaft wird hier beschworen, eigentlich eine große Familie.

Im Obergeschoss ist noch ein drittes, eigenständiges und zugleich unmittelbar verwandtes Segment der Schau zu besichtigen. Tilda Swinton hat es kuratiert, ursprünglich für das Magazin Aperture. Es kreist um „Orlando“, die Virginia-Woolf-Verfilmung von Sally Potter. Dieser Teil gewährt einerseits Einblick in die Hintergründe der Produktion, in einer Vitrine lässt sich ein Album studieren, in dem Potter ihr Vorhaben in Wort und Bild vorstellt. Eine Argumentation zum Zweck der Finanzierung (die dann immer noch vier Jahre dauerte), aber auch schon eine Einstimmung in Stil und Gestaltung des Films. Auf den Fotos entdeckt man, wie Swinton in die Rolle hineinfindet und der Film in die verschiedenen Epochen der Handlung eintaucht. Im folgenden, letzten Raum wird der Film als Inspirationsquelle für Fotografinnen namhaft. Ein Hochamt der Erlesenheit, ein Bilderrausch, der auch deshalb so eindrücklich ist, weil es sich um Großformate handelt. Allerdings ist die Sichtbarkeit in dieser Ausstellung keine Frage der Dimension, sondern der Anschauung.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt