13 Handschriften

"Wo sind eigentlich die Filme von Frauen?" fragt Erika Gregor einmal in »Komm mit mir in das Cinema«. In diesem Moment ist Alice Agneskirchners Biopic über die Gregors in den 1970er Jahre angekommen. Prompt veranstalteten sie im Arsenal in der Welserstraße das erste "Internationale Frauenfilm-Seminar". Heute Abend wird im Arsenal eine weitere epochale Filmreihe eröffnet: "Women make film".

Das Kino liegt zwar inzwischen am Potsdamer Platz, aber dennoch kann man von einem Genius loci sprechen: einer pflichtbewussten Entdeckerfreude, die das Neue ebenso wie die verdrängte Filmgeschichte sichtbar machen will. Die aktuelle Reihe ist auf mehrere Monate angelegt und von ziemlich einzigartiger Ambition. Ihr Titel geht auf Mark Cousins monumentalen Dokumentarfilm (im Arsenal kennt man, auch das gehört zum Geist des Ortes, keine Scheu vor Überlänge), in dessen Untertitel »A New Road Movie Through Cinema« noch die Bewegungslust hinzukommt. Der Radius der Retrospektive, die bis zum 18. Dezember läuft, umfasst mehrere Kontinente und Epochen. Ein Projekt der Gegengeschichtsschreibung? Gewiss, und auch eines der Rückgewinnung.

In »Komm mit mir in das Cinema« antworten Jutta Brückner, Dorris Dörrie, Helke Sander und Margarethe von Trotta auf Erika Gregors Frage; im Interview und in Ausschnitten aus ihren Filmen. Wim Wenders sekundiert ihnen, die Filme von Frauen seien in den 70ern radikaler (als die der Männer) gewesen, sie gingen weiter, reflektierten anders. Diese Epoche wäre in der Zusammenschau ihrer Arbeiten ein Retrospektive wert.

Derzeit hat jedoch die Wiederentdeckung internationaler Filmemacherinnen in Kommunalen Kinos und Kinematheken Konjunktur. Im Arsenal selbst lief unlängst eine Reihe mit den Regiearbeiten der großen Kinuyo Tanaka. Ebenfalls am heutigen Abend beginnt im Österreichischen Filmmuseum eine Retrospektive der Ungarin Márta Mészáros. Das Festival Lumière in Lyon widmet jedes Jahr einer Regisseurin eine Hommage, in diesem Oktober feiert es die Schwedin Mai Zetterling. Im Frühjahr liefen in München (Regia Donna) und in Berlin (Femminile, Plurale) zwei bemerkenswerte Filmreihen mit italienischen Regisseurinnen, die sich wesentlich auf Beispiele aus der Gegenwart konzentrierten, diese aber auch in den Dialog mit einer vorangegangenen Generation (Lina Wertmüller!) verstrickten. Das B-Movie in Hamburg zeigt im Oktober einen Filmzyklus mit polnischen Regisserinnen. Nur eine Stegreifliste, bestimmt gab und gibt es in diesem Jahr noch weitere Retrospektiven.

Das Vorhaben des Arsenal ist jedoch in mehrfacher Hinsicht präzedenzlos. Allein die schiere Länge von Cousins Film (14 Stunden) zeigt schon, dass es um einen großen Korpus an weiblichen Handschriften geht, der von einer vorwiegend männlichen Geschichtsschreibung bisher ignoriert oder aussortiert wurde. „Women make film“ stellt 13 Regisseurinnen jeweils mit einer Filmauswahl vor, die von Einführungen und Diskussionen begleitet wird. Darunter sind viele Namen, die allenfalls Eingeweihten bekannt sind. Es laufen die unüblichen Verdächtigen und beispielsweise nicht Agnès Varda, Wertmüller oder Larissa Schepitko. Auch nicht Ann Hui – Hong Kong wird repräsentiert von Tang Shu Shuen, deren Historienfilm »Dong Fu Ren« (The Arch) heute Abend den Reigen eröffnet. Zu ihren Filmen gesellen sich Arbeiten der ersten bulgarischen Regisseurin Binka Zhelyazkova. Ich kannte ihren Namen bisher in der Schreibweise Jeliazkova, aber auch nur deshalb, weil vor einigen Wochen das Filmfestival von La Rochelle sie mit einer Retrospektive wieder ins Gedächtnis rief. Tatsächlich war sie zweimal in Cannes im Wettbewerb vertreten. Im Arsenal findet also echte Archäologie statt und wird das Verschüttete geborgen. Tiefer zu schürfen, gehört ohnehin zum Genius loci.

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