Staatsräson

Im Augenblick ist der Berichterstattung der Medien noch nicht zu entnehmen, ob es an diesem Wochenende auch pro-israelische Demonstrationen gegeben hat. Aber das darf man getrost bezweifeln, aus aktuellen wie historischen Gründen: Die Proteste anlässlich des derzeitigen Nahost-Konflikts fallen mulmig mit einem Jahrestag zusammen.

Das Existenzrechts und die Sicherheit Israels sind seit vielen Jahren deutsche Staatsräson. Während der Bundespräsident und weitere Politiker in den letzten Tagen antisemitische Anschläge und das Verbrennen der israelischen Flagge (was nicht derselbe Tatbestand ist) scharf verurteilen, manifestiert sich auf den Straßen eine ganz andere Position. In Berlin, Frankfurt, überhaupt europaweit wird für die Befreiung Palästinas demonstriert. In Paris kam es bei einer zuvor verbotenen Demonstration zu heftigen Ausschreitungen; bei einem Protestmarsch in London trat der frühere Labourchef Jeremy Corbyn als Redner auf, der aus der Fraktion seiner Partei ausgeschlossen wurde, seit eine parlamentarische Untersuchungskommission Vorwürfe über antisemitische Tendenzen während seiner Führung prüft. Die Demonstrierenden werden zweifellos unterschiedliche Beweggründe gehabt haben; es sammelt sich derzeit vielerlei Groll auf den Straßen.

In Frankfurt versuchte die Jüdische Gemeinde im Vorfeld, die Demo zu verhindern; der hessische Antisemitismus-Beauftragte stellte Strafanzeige gegen das Netzwerk Samidoun, das den Protest mitorganisierte. Selbst der fragwürdige islamische Verband Ditib forderte seine Mitglieder auf, der "hasserfüllten Versammlung" fernzubleiben. Sie war ausdrücklich als "Nakba"-Demonstration angekündigt. Seit ihn Palästinenserchef Jassir Arafat 2004 einführte, wird in mehreren arabischen Staaten am 15. Mai der Nakba-Tag begangen. Es ist das Datum nach dem Jahrestag der Staatsgründung Israels und markiert die Vertreibung von 700000 arabischen Einwohnern aus dem bisherigen britischen Mandatsgebiet Palästina. Den Begriff – er bedeutet Katastrophe und Unglück - habe ich erstmals bewusst im Kino bzw. im Fernsehen wahrgenommen, in den zwei Verfilmungen von John Le Carrés »The Little Drummer Girl« (Die Libelle).

An die Kinoadaption mit Diane Keaton und Klaus Kinski aus dem Jahr 1984 habe ich eher diffuse Erinnerungen, was eher Loring Mandels Drehbuch als meinem Gedächtnis anzulasten ist. Es handelt allerdings auch von Konfusion, der politischen Ideen, Ziele und Beweggründe. Diese haben Michael Lesslie und Claire Wilson, die Szenaristen von Park Chan-Wooks TV-Mehrteiler von 2018, erheblich klarer herausgearbeitet. Die Verpflichtung des Koreaners mag auf Anhieb verblüffen. Er ist eine reizvolle Wahl, nicht nur, weil er aus einem Land stammt, das selbst historisch gespalten ist. Der Regisseur von »Old Boy« versteht zu inszenieren, wie einem das eigene Leben plötzlich aus den Händen gerissen werden kann.

Beim Ansehen der aktuellen Nachrichtenbilder von den Bombenangriffen der Hamas und der Israelis ist mir sein Film ständig präsent. Die endlose Spirale aus Anschlag und Vergeltung, die er beschreibt, stimmt wenig hoffnungsvoll. Le Carré wählt zwar die Perspektive eines Mossad-Kommandos, genauer: die einer britischen Schauspielerin (Florence Pugh), welche als dessen Marionette eine Terrorzelle infiltrieren soll. Aber er geht mit allen Seiten hart ins Gericht. Die Handlung spielt im Jahr 1979, setzt in Europa ein, geht dann im Libanon weiter und kehrt in ihrem Finale nach England zurück; mit martialischen Konsequenzen im Nahen Osten im Epilog. Le Carrés Roman erschien 1983, sein Setting war mithin nicht brandaktuell, sondern bereits sacht historisch. 1979 ist ein interessanter Zeitpunkt, im Hinblick auf die politische Lage im Nahen Osten ebenso wie in Europa: Das Jahrzehnt des Terrors geht seinem Ende entgegen, nicht aber der Terrorismus.

Die geographischen Bewegungen des Buches bzw. Parks Verfilmung sind bemerkenswert. Am Anfang steht ein Bombenattentat in Bad Godesberg (eben noch nicht die Berliner Republik), das von einer paneuropäischen Zelle (eine Schwedin, eine Deutsche, ein italienischer Journalist und im Hintergrund ein Anwalt aus Zürich) unter arabischer Federführung ausgeführt wird. Wir werden eingeweiht in die späten Ausläufer eines Milieus, dessen rebellischen Motive sich im Hass auf den Zionismus bündeln lässt. Eine rissige Innenansicht also jenes nach dem Sechstagekrieg notorischen Antisemitismus der europäischen Linken, an dessen Existenz und Verflechtungen ich bis zu Marcel Ophüls' »Hotel Terminus« und »Im Auftrag des Terrors«, Barbets Schroeders dokumentarisches Porträt des Klaus-Barbie-Verteidigers Jacques Vergès, noch nicht recht glauben wollte. Auch Charlies Beweggründe sind diffus und widersprüchlich, ein verhängnisvolles Schillern, mit dem Pugh aber robuster zurechtkommt, als es Keaton in der ersten Verfilmung möglich war. Sie hat schlicht mehr Zeit, das Einüben einer Rolle, die Duplizität von Schauspiel und Spionage in allen Konsequenzen durch zu buchstabieren. Die Analogie ist mitunter ein wenig zu dick aufgetragen. Aber welch faszinierenden Katalog an Verhaltensregeln für ein Leben in der Lüge man dabei entdecken darf ("Korrigiere dich nie!" oder "Ist Ihnen an der Frau etwas aufgefallen, was sie selbst nicht bemerken würde?") sowie die typische Doppeldeutigkeit des Vokabulars (ein Transistorradio? Gesellschaft!). Fürwahr, es gibt exzellente Le-Carré-Verfilmungen fürs Kino. Aber seine kaleidoskopische Enthüllung von Manipulation und Verrat (an Überzeugungen, Beziehungen, Gefühlen) entfaltet sich einfach präziser in einem Mehrteiler.

Das neue Drehbuch gibt jeder Figur mehr Handhabe. Michael Shannon ist bestürzend in der alten Kinski-Rolle als Chef der Mossad-Gruppe; allein schon in seiner polyglotten Verschlagenheit. Alexander Skarsgard verleiht der monotonen Einsilbigkeit Gadis unverhoffte Facetten. Charles Dance könnte die kalte Arroganz des britischen Geheimdienstoffiziers bestimmt im Schlaf spielen, aber hier gibt er sich echte Mühe: als ein Genie der Verachtung, der nicht nur Juden hasst, sondern alles, was nicht britisch ist.

Beides, Hass und Verachtung sind so mächtige, pragmatische Triebfedern in »Die Libelle«, dass der Zweifel allein schon als Tugend erscheint. Erstere haben auf beiden Seiten ihre Gründe; letzterer bleibt ein Privileg des Mossad. Aber neben Israelis und Palästinensern kommt noch eine dritte Partei hinzu. Zu den historischen Wurzeln des Konflikts stößt Le Carré vor, in dem er die Handlung schließlich in seine Heimat führt. Diese topographische Zielführung wird schon früh im Dialog etabliert. Die Briten fanden stets Lösungen für die Probleme anderer Länder, heißt es einmal. Und dann: Die britische Regierung versprach Palästina 1947 sowohl den Arabern als auch den Juden. Das Schicksal der Kontrahenten und misstrauischen Allianzen entscheidet sich in einem Hörsaal, der nach Lord Balfour benannt ist, dessen Unterschrift die Staatsgründung Israels besiegelte. Die Spiegelfechtereien des britischen Geheimdienstes entstehen meist bei Le Carré aus der Kränkung über den Verlust an geopolitischer Bedeutung. Diesmal ist jedoch es eine Frage der Verantwortung.

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