Leselust - Der Roman zum Bonusmaterial

Es ist gut möglich, dass Ihnen Brie nach dieser Lektüre ganz anders schmecken wird; zumal, wenn er aus Meaux stammt. Für Calista, die Erzählerin des neuen Romans von Jonathan Coe, ist der Rohmilchkäse ein Trostspender. Für Notfälle hat sie immer drei unterschiedliche Sorten im Haus. Sie mag es, wenn seine Textur noch fest, aber schon cremig ist. Andere trinken, um zu vergessen. Sie isst Brie.

Entdeckt hat sie diesen Genuss während einer Autofahrt mit Billy Wilder. Eigentlich erwartet ihn das Team zum letzten Drehtag von »Fedora«, aber auf Anraten des Chauffeurs machen sie einen Umweg. Er kennt einen der besten Brie-Hersteller der Region, und der Feinschmecker auf dem Rücksitz will sich diese Köstlichkeit nicht entgehen lassen. Calista ist in Sorge, aber von dem Regisseur fällt bei der Verkostung alle Anspannung ab. Das Kamerateam bestehe aus Profis, die würden die Schienen für den Dolly auslegen. Dass ihr Gastgeber ihn mit William Wyler verwechselt, stört Wilder nicht. Für den Regisseur, der das Wagenrennen in »Ben-Hur« inszeniert hat, holt der Bauer immer neue Schätze aus seinem Keller. Am Drehort wird alles wie am Schnürchen laufen.

Die kleine Eskapade des Regisseurs, der sonst stets pünktlich auf dem Set erscheint, ist verbürgt; wenngleich in anderer Besetzung. Produktionsleiter Harold Nebenzal erzählt diese Anekdote in Robert Fischers Dokumentation »Swan Song«, die der deutschen DVD-Edition von 2014 als ungeheure Bereicherung hinzugefügt ist. Der britische Schriftsteller hat zwar fast alle Wilder-Biographien konsultiert, aber sie ist eine der wichtigsten Quellen, aus denen sich »Mr. Wilder und ich« speist. Er verdankt ihr einen Gutteil der Hintergrundinformationen zu und Eindrücke von den Dreharbeiten auf Korfu, in München und Paris. Vor einer Woche ist der Roman in deutscher Übersetzung bei Folio erschienen; ich wurde zuerst durch eine Rezension der französischen Ausgabe in "Libération" auf ihn aufmerksam.

Coes Erzählperspektive ist die einer unverhofften Insiderin: der des griechisch-britischen Teenagers Calista, die eine Freundin zu einem Dinner mit dem Regisseur begleitet, dessen Name und Filme ihr nichts sagen. Vom Kino versteht sie eingangs praktisch gar nichts, was Wilder und seine Tischgesellschaft (bestehend aus seinem bewährten Co-Autor I.A.L Diamond und ihren Gattinnen) weniger kränkt als fasziniert. Sie sind dankbar für diesen unschuldigen Blick, denn sie fürchten, dass sie den Anschluss zum neuen Hollywood und jungen Publikum verloren haben. Ihre Neugier trifft auf eine überwindbare Schüchternheit. Calista wird gar eine Szene ihres Drehbuchs zu »Fedora« inspirieren, als sie ein Gähnen nicht unterdrücken kann.

Die Zwiesprache der Generationen setzt sich einige Monate später fort, als Wilder sie als Dolmetscherin für den Dreh in Griechenland engagiert. Das Interview mit dem einheimischen Journalisten, der beharrlich Fragen zur politischen Relevanz von Wilders Lindbergh-Film »The Spirit of St.Louis« (Mein Flug über den Ozean) stellt, ist köstlich. Bald findet Wilder neue Aufgaben für sie, namentlich als persönliche Assistentin von Diamond: Sie wird zu einem Maskottchen der Dreharbeiten. Ein gewisses Kinowissen hat sie sich inzwischen angelesen, ausgerechnet in Leslie Halliwells "Filmguide" und "Filmgoer's Companion", dessen Befunden sie zwar skeptisch gegenübersteht (konservativ, ja reaktionär, lässt nur Filme gelten, die vor den 1950erm entstanden), aber überzeugend nachbetet. Das ist nicht nur amüsant für jemanden wie mich, der selbst für eine Weile in die Fänge von Halliwells heillos britischem Filmgeschmack geriet. Komisch ist vielmehr, dass alle Betroffenen ihren bzw. Halliwells vernichtenden Urteilen ohne Protest zustimmen.

Calista wird Zeugin eine Art des Filmemachens, die bereits antiquiert ist. In Hollywood geben inzwischen die "Jungs mit Bärten", die mit Handkamera und Zoom arbeiten, den Ton an. Ist Wilder 1976 zu Norma Desmond geworden? Ein Fossil ist er als Person mitnichten, denn auch bei Coe erscheint er als die vertraute, unerbittliche Pointen-Maschine, als ein Wunder einer Geistesgegenwart, die freilich der Vergangenheit angehört. Calistas Blickwinkel ist immens ertragreich, denn sie zeigt sich als gute Beobachterin bereits während ihrer ersten Begegnung, wo sie merkt, wie wohl sich der nach wie vor verehrte Regisseur in seiner Haut fühlt. Sie lernt die Konversationsregeln von Dreharbeiten kennen, die subtilen Machtspiele, lässlichen Lügen und hierarchischen Rücksichtnahmen. Al Pacino, der damalige Lebensgefährte von Wilders Hauptdarstellerin Marthe Keller, hätte keinen Tag unter seiner Regie überstanden.

Calista ist wachsam. Sie durchschaut ein Grundproblem des entstehenden Films – es geht um einen Filmstar, dessen Berühmtheit eben nur fiktiv ist und deshalb als Legende ohne bezwingenden Reiz bleibt fürs Publikum. Niemand glaubt wirklich an die kommerziellen Chancen, die »Fedora« im damaligen Klima hätte, aber jeder spürt, wie wichtig das Projekt für Wilder ist. Das schreibt natürlich Coe, aber erlauben Sie mir, noch einen Moment von ihrer Stimme zu sprechen. Denn das Ganze würde nicht funktionieren, wenn Calista nur Zeugin und nicht eine Figur aus eigenem Recht wäre. Gewiss, sie holt brav nach, was ihr anfangs an Kenntnissen fehlte, entdeckt in Paris nicht nur Wilders Filme, sondern auch die seines Mentors Ernst Lubitsch, was ein triftiges Präludium ihrer ersten Liebesnacht ist. Aber der Bildungsroman, den sie erlebt, führt sie zu eigener Kreativität. In der Gegenwartsebene des Romans – ja, er ist in Rückblenden erzählt wie »Frau ohne Gewissen« und »Boulevard der Dämmerung« - ist sie eine gestandene Filmkomponistin. Ich stelle mir vor, Coe hatte da eine Kombination aus Eleni Karaindrou und Rachel Portman vor Augen.

Immer wichtiger wird im Roman Wilders Familiengeschichte, die Suche nach seiner Mutter, deren Spuren sich im KZ verlieren. Auch er, der seine eigenen Ansichten so genau kennt, lernt im Roman hinzu. Als er sich um die Rechte an "Schindler's Ark" bemüht, kommt ihm Spielberg zuvor. Er spricht ihm die nötige Einfühlung und Reife ab – er kann das Leid nicht nachempfinden, hat den Krieg nicht miterlebt. Als er dann »Schindlers Liste« sieht, ist er tief beeindruckt von dessen Menschlichkeit. Coe hat alles akribisch nachgelesen und -gesehen. Man erfährt erfreulich viel über Izzy Diamond. Ein paar Schnitzer unterlaufen ihm dennoch Einmal verwechselt er Richard Rodgers mit Friedrich Holländer. Und Wilder wird damals schwerlich behauptet haben, »Eins, Zwei, Drei« sei ein Erfolg gewesen. ZumPublikumsrenner entwickelte er sich in West-Berlin erst nach seiner Wiederentdeckung 1985. Neun Jahre früher war es noch ein verfemter, unsichtbarer Film. Dass die Gäste des Banketts in München ihn kennen, ist wenig wahrscheinlich – und dass sie Wilder zu ihm gratulieren, noch weniger.

Was mir an Coes Buch gefällt ist, mit welcher Sorgfalt er Wilders ungeliebtes Spätwerk betrachtet (und nicht nur seine Entstehung), um dann bestimmte Motive aus »Fedora« in seinem Buch aufzugreifen. Es ist hübsch, wie William Holdens unzustellbare elektrische Heizdecke nun ein Echo findet in einer Cassette, die Calista an Wilder schickt. Auch Pacinos Vorliebe für Cheeseburger, über die Wilder sich maliziös amüsiert, hat ein Pendant in seinem Film. Und sein Ehrgeiz, einen ebenso brillanten Schlussdialog zu finden, wie man ihn aus Wilders Komödien kennt, zahlt sich wirklich aus.

 

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