Das spanische Paradox

Bei ihm gibt es kaum je einen Moment der Stille. Diesen Regisseur fasziniert der bunte Betrieb des Lebens. Es herrscht Geschäftigkeit, alle Welt redet durcheinander, die Einstellungen sind drangvoll, oft bis in die Tiefe des Bildraums hinein: Das Chaos muss geordnet werden.

Der Spanier Luis García Berlanga war ein begnadeter Ensemblefilmer, wie Whit Stillman vor zwei Tagen, aber noch unbedingter, noch unweigerlicher. Vielleicht eine Frage der Herkunft, auf jeden Fall aber eine des Temperaments. In diesem Jahr wäre er 100 Jahre alt geworden und das Zeughaus-Kino in Berlin gratuliert ihm in den kommenden vier Wochen. Den Auftakt macht heute Abend sein nach wie vor berühmtester Film, die Satire „Willkommen, Mister Marshall“ von 1952. Anders als seine europäischen Nachbarn profitierte Franco-Spanien nicht vom Marshall-Plan. Aber vom Träumen lässt sich das kleine Dorf, dessen Namen sich nicht einmal der Abgeordnete der Region merken kann, nicht abhalten. Es fehlt an allen Ecken und Enden, die Kirchenuhr geht seit Jahren nicht mehr und die Ausstattung der Schule ist beklagenswert - die Karte Europas stammt noch aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Nun herrscht Aufbruch, um jeden Preis will man die Nachbarorte ausstechen. An Ideen fehlt es nicht, um an die erhofften Subventionen zu kommen.

Der Bürgermeister (gespielt von dem prächtigen José Isbert) mag schwerhörig sein, aber bauernschlau ist er für zwei. Bevor Berlanga und sein Co-Autor Juan Antonio Bardem die Geschichte erzählen, halten sie den Erzählfluss erst einmal an, gern mit Stopptricks, um die Dorfgemeinschaft vorzustellen. Der emsigen Lehrerin beispielsweise muss der Musterschüler beim Unterricht soufflieren. Sobald der Film sein Personal vorgestellt hat, kann er choral erzählen: aus der Perspektive des gesamten Dorfes. Jeder darf einen Wunsch äußern für den Fall, dass die Gelder aus den USA kommen. „Ich will eine Frau“, sagt ein Bauer, was abschlägig beschieden wird: „Dann einen Esel“.

Berlanga war einer der ersten Filmstudenten, der ins Kino drängte. Der Widerstand der Branche war groß. Das spanische Kino, das ihm und seinem Mitstreiter Bardem vorangegangen war, lag im dicken Nebel von Patriotismus und Zensur. Letztere war dreifaltig unter Franco: staatlich, religiös und militärisch. Die neue Generation, die den italienischen Neorealismus kannte, musste Tabula rasa machen. Sie wollte auf den Straßen drehen und nicht mehr in stickigen Studios. Die Produzenten rieben sich die Hände, denn so konnten die Filme billiger werden. So entstand ein Kino der Zeitgenossenschaft, das im Falle Bardems melodramatisch war – er war ein Kommunist, der von Hollywood träumte – und im Falle Berlangas satirisch. Bei ihm tarnt sich die Subversion zuweilen als jene pfiffige Anarchie, die bereits entstehen kann, wenn Leute im Alltag ungezwungen zusammentreffen. „Plácido“ (1961) weist ihn als wachsamen Zeugen des Volkslebens aus. Die konfrontative Schärfe, mit der er Institutionen zur Rechenschaft zieht, die Folklore unterläuft und Hierarchien außer Kraft setzt, ist verwegen und listig.

Die Empfänglichkeit für internationale Einflüsse, nicht nur des Neorealismus', ist faszinierend. Von den späten 1950ern an besteht das neue Kino auf der Durchlässigkeit der Grenzen. (Das Regime tut es auch, ohne zu ahnen, was der eigenen Kultur blüht, sobald Heerscharen von Touristen einfallen.) Es entstehen Co-Produktionen mit anderen Ländern, die Regisseure scharen Darsteller, Autoren, Komponisten und Kameraleute aus Frankreich und Italien um sich: nicht nur als Instrumente, sondern charismatische Impulsgeber. „Der Henker“ (1963), wo Ennio Flaiano als Co-Autor zeichnet und Nino Manfredi die Titelrolle spielt, ist die trefflichste, abgründigste Commedia all'italiana, die je anderswo entstand. Als ich Berlangas Meisterwerk jetzt wiedersah, merkte ich jedoch, wie temperamentvoll es in der spanischen Tradition der Groteske steht. Außerhalb seiner Heimat ist Berlanga weniger bekannt als Bardem und Bunuel, mit denen er in den 1960ern ein Dreigestirn der Anarchie bildete.

Aber daheim ist er nach wie vor ungemein populär, ein eminent volkstümlicher Autorenfilmer, dessen Nachname zu einem Adjektiv geworden ist. Seine Komödien kommen so leichtfüßig daher, dass sie noch die wachsamsten Zensoren regelmäßig entwaffneten. Sie teilen in alle Richtungen aus. Die katholische Kirche, die Bürokratie und die sozialen Gegensätze leuchten in all ihrer finsteren Widersprüchlichkeit auf. Die kirchliche Trauung in „El Verdugo“ entlarvt meisterlich die Doppelmoral der Institution. Vor Manfredi und seiner Frau war ein reiches Ehepaar an der Reihe, jetzt nehmen die pietätlosen Messdiener die prachtvollen Blumengebinde ab, rollen die Teppiche zusammen und löschen während der Zeremonie die Kerzen. Die Szene ist übrigens autobiographisch: Auch Berlanga konnte sich nur eine Armen-Trauung leisten.

Berlanga zeichnet seine Figuren mit einer Schärfe, die Zärtlichkeit nicht ausschließt. Sie sind so einnehmend, haben so viel Elan (siehe oben) dass sie die Zensurschleuse mühelos passieren konnten. Wie bei Stillman, wenngleich auf entschieden andere Weise, wird bei Berlanga der Druck spürbar, den die Gemeinschaft, genauer: die Gesellschaft ausübt. Im Kern haben die Zwei ihr Genre gemeinsam, die comedy of manners.

Manfredi wehrt sich in „El Verdugo“ mit Händen und Füßen dagegen, als Henker die Nachfolge seines Schwiegervaters (wiederum José Isbert, der noch prächtiger ist als im ersten Film) anzutreten. Das Drehbuch, das in Zusammenarbeit mit Rafael Azcona entstand, dem Szenaristen, der eine noch dunklere Seite im Regisseur hervorholte, lässt ihm keine Wahl. Er strampelt, aber die Umstände sind mächtiger. Eine ungewollte Schwangerschaft, die Familie braucht eine neue Wohnung, die Träume vom anderswo (er würde gern in Deutschland als Automechaniker arbeiten, sie gern in Frankreich leben) werden pragmatisch begraben.

Das Publikum strampelt mit ihm, denn dieser Film fällt eines der schärfsten Urteile gegen die Todesstrafe in der gesamten Kinogeschichte. Das merkt man nicht so schnell, denn das Makabre tarnt sich komödiantisch. Manfredis Frau will ihm Hemden kaufen, aber er hat seine Größe vergessen. Der Schwiegervater nimmt ihn fachmännisch in Augenschein, er kennt sich schließlich mit Hälsen aus. Das Maßnehmen ist ohnehin ein hübsches Motiv im Film, Manfredis Bruder ist Schneider, arbeitet für Militär und Kurie, lässt ihn eine Soutane anprobieren, um die Armfreiheit beim Segnen zu testen und legt danach gedankenverloren das Band an, um den Kopfumfang seiner Kinder zu bestimmen. Ein weiteres Motiv, dass der Film einfallsreich morbide durchspielt, ist die Eiskrem, die Manfredis Frau so sehr liebt. Am Ende, als all seine Versuche, seine erste Hinrichtung zu vereiteln, gescheitert sind, wird er abgeführt wie der Verurteilte. Die Einstellung, in der die zwei Gruppen durch eine weißgekalkte Halle zur Hinrichtung marschieren, ist ein Meisterstück der Rauminszenierung. Danach geschieht etwas Unerhörtes: Für einen Augenblick herrscht Grabesstille.

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