Gegen den Strich

Es passiert einem Filmjournalisten nicht oft, dass sein Gesprächspartner gleich nach dem Interview aufbrechen muss, weil er eine Vorladung zum Gericht hat. Aber so erging es mir, als ich 2002 Bertrand Bonello interviewte. Der Regisseur sollte, wenige Wochen nach dem Frankreichstart von „Der Pornograph“, im Pariser Justizpalast erscheinen.

Der Titel seines Films hatte eine erzkonservative-religiöse Bürgerinitiative auf den Plan gerufen, die schon das Zensurverbot von „Baise-moi“ betrieben hatte. Angeklagt war freilich nicht der Regisseur, sondern die damalige Kulturministerin Cathérine Tasca, die seinen Film frei gegeben hatte. Er war zuversichtlich, dass er weiter gezeigt werden könnte. Ungeachtet des Filmtitels und beachtlicher anatomischer Deutlichkeit suchte Bonello nicht den Skandal, wie es etwa gerade zuvor Catherine Breillat mit „Romance“ tat. Sein Interesse an den Grenzen des Zeig- und Hörbaren ist ein ästhetisches, kein spekulatives; die Fragen, die er nach dem Eindringen in die Intimsphäre stellt, sind subtiler. Die Hardcore-Szenen stellte er sich so vor, als würden Robert Bresson oder Eric Rohmer sie filmen.

Trotz der Anspannung war er ein konzentrierter, aufmerksamer Interviewpartner. Unserem Gespräch gab er eine überraschend visuelle Dimension, in dem er dessen dessen Dekor (ein Hotelzimmer) hinterfragte. „Wenn ich Sie jetzt hier filmen würde,“ sagt er, „würde ich erst einmal die Pflanze aus dem Hintergrund entfernen. Requisiteure stellen einem so was ständig ins Bild. Aber ich interessiere mich nur für das Gesicht und die Wand dahinter. Alles andere dient nur der Illusion von Glaubwürdigkeit.“ Damals machte er noch ein Kino des verschwenderischen Minimalismus', der strengen Reduktion und Verfeinerung: eines, das die Stille befragte. Das hat sich seither fulminant geändert: Aber ein Moralist des Bildes ist er geblieben.

Obwohl man sich gut vorstellen könnte, dass „Time is on my side“ von den Stones auf der Tonspur eines seiner Filme auftaucht – am Schluss seines neuen Films „Zombi Child“ bringt er immerhin Gerry and the Pacemakers zu Gehör - , kann man nicht behaupten, dass das Timing in seiner Karriere immer stimmte. Davon später mehr. In ein, zwei Tagen jedenfalls wird ihm die Zeit wieder einmal einen Strich durch die Rechnung machen. Eigentlich sollte er Freitag und Samstag zur Eröffnung der Retrospektive kommen, die ihm das Berliner „Arsenal“ im Oktober ausrichtet. Die aktuellen Einreisebeschränkungen vereiteln dies; statt dessen wird er per Skype präsent sein und Rede und Antwort stehen. Zum Auftakt läuft „Zombi Child“, über den Thomas Abeltshauser sehr schön in der neuen Ausgabe von „epd Film“ geschrieben hat, einen Tag später dann sein großartig wundersamer Belle-Époque-Film „L'Apollonide“ (Haus der Sünde).

Dies Eröffnungsprogramm demonstriert schon, wie unberechenbar das Werk dieses herausragenden Regisseurs ist. (Obwohl beide, auf je eigene Art, außerordentliche Kostümfilme sind.) Im Arsenal sind Facetten zu sehen, von deren Existenz ich gar nicht wusste, darunter ein Kurzfilm, der während der Ausgangssperre im Frühjahr entstanden ist. Über Ingrid Caven hat er einen Konzertfilm gedreht, hat sich von einem Connie-Francis-Song inspirieren lassen und eine Art Geisteroper über die Witwe des Waffenfabrikanten Winchester gedreht. Sie merken bereits: Die Musik ist ein starkes Bindeglied in dieser anscheinenden Heterogenität.

Bonello ist, wie jeder gute Filmemacher, ein Ohrenmensch. Dass er ursprünglich eine Ausbildung als Musiker durchlaufen hat, ist schon seinem ersten Langfilm anzuhören und anzusehen. Die Montage und die Diktion der Dialoge von „Quelque chose d’organique“ (er lief 1999 im Panorama der Berlinale, sein Fernsehtitel lautet „Alchimie der Liebe“) sind streng rhythmisiert, Bonello arbeitet mit Pausen, Modulationen und Tempiwechseln. „Der Pornograph“ ist in drei Sätzen komponiert. „Bertrand funktioniert eher über das Ohr, als über das Auge“, sagte Romane Bohringer, die Hauptdarstellerin seines ersten Films, einmal zu mir. „Die Stille gibt uns als Schauspieler große Möglichkeiten, eine Figur zu formen, indem wir sie von der Sprache und der Psychologie befreien.“ Angeblich schaut er seinen Schauspielern beim Drehen oft nicht einmal zu, sondern lauscht nur auf ihre Diktion. „Wenn eine Szene in meinen Ohren gut klingt,“ eröffnete er mir 2002 ganz ohne Ironie, „dann ist sie auch gut gespielt. Denn wie kann man den richtigen Ton finden und sich dabei falsch bewegen?“

Bonellos Filme sind geballte Ladungen, voller Motive, Hintergründe und Anspielungen. Die Figur des Doubles zieht sich durch sein Werk, besonders prägnant in „Tiresia“. Sein neuer Film sagt Entscheidendes aus zum kolonialen Erbe, zu kultureller Aneignung, zur Freiheit und zum Pop. Rihannas "Diamonds" war schon für Céline Sciammas Mädchengang wichtig. Ohnehin ist "Zombi Child" er drapiert mit filmhistorischen Verweisen. Natürlich darf man bei dem Mond, der im Vorspann von Wolken verdeckt und dann wieder freigegeben wird, an die dräuende Atmosphäre von Jacques Tourneurs „Ich folgte einem Zombie“ denken. Bonello kennt die filmische Ikonographie des Voodoo genau, bis hin zu „Leben und sterben lassen“; Romero und seine wüsten italienischen Nachahmer interessieren ihn weniger, ebenso wie „The Walking Dead“, dafür versteht er die Melancholie bei Jarmusch genau. Ganz sicher hat er Wade Davis' anthropologische Studie „Die Schlange und der Regenbogen“ gelesen, in der es um das reale Schicksal des untoten Clairvius Narcisse geht, und womögliche auch Wes Cravens freie Verfilmung - die Bestechungssumme von 1000 Dollar bzw. Euro lässt mich das zumindest vermuten.

„Der Pornograph“ wiederum steckt voller melancholischer Zitate und Verweise, auf Truffaut, Bergman und Walerian Borowczyk. Bei seinem für Voyeure ungeeignetem Bordellfilm „Haus der Sünde“ musste ich an die mondänen Schauspiele von Max Ophüls denken, was nicht unbedingt heißt, dass Bonello es auch tat. Dieser Anspielungsreichtum ist kein cinéphiler Selbstzweck, sondern ein Bekenntnis des Regisseurs zur eigenen Abkunft und der Wunsch, sich selbst einzuschreiben in eine Erzähltradition. Was dann wieder zu „Zombi Child“ passt, der auch von der Übertragung eines Erbes handelt, erneut in vielfacher Hinsicht.

Der kurz nach dem Pariser Mai 1968 geborene, mit der verratenen Revolution aufgewachsene Regisseur, stellt sich regelmäßig regelmäßig die Frage, welche Utopien seiner Generation noch bleiben und wogegen sie aufbegehren sollte. Die Antworten sind poetisch und schillernd. Seine Filme sind brandaktuell und fallen zugleich aus der Zeit: Geisterfilme, an verwunschenen Orten spielend, jugendlich frische Abgesänge, irritierende Beschwörungen.

Womit ich auf das schlechte Timing zurückkomme. Sein delirierendes Biopic über Yves Saint Laurent kam kurz nach Jalil Lesperts treuherzigerer Variante heraus. Dass es nicht von Pierre Bergé, dem Partner des Modeschöpfers und Treuhänder seines Vermächtnisses, autorisiert wurde, ist nicht der einzige Vorzug dieses freien, ungebundenen Films. Richtiges Pech hatte er bei dem kühn ambivalenten Terroristenfilm „Nocturama“. Er trug sich mit dem Projekt seit 2010, dann geriet es in die Geiselhaft der Aktualität. Das Drehbuch legte er im Januar 2015, vier Tage nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“, der nationalen Filmförderung CNC vor. Es wurde auch bei zweiten Einreichung abgelehnt. Dennoch kam die Finanzierung zustande, die Dreharbeiten begannen im Sommer. Als Bonello den Film im November schnitt, fanden die Anschläge auf das „Bataclan“ und weitere Ziele in Paris statt. Der Täter entsorgten ihre Mobiltelefone, ebenso wie seine Figuren, in öffentlichen Mülleimern. Vom Festival in Cannes wurde der Film kurzfristig abgelehnt, mit widersprüchlichen Begründungen (es gab Gerüchte um Attentatsdrohungen). Dem Kinostart ging das Lastwagen-Attentat in Nizza am französischen Nationalfeiertag voraus. Es war nicht der Film der Stunde, lieferte nicht den Trost der Aufklärung, dessen das traumatisiert Frankreich gerade bedurfte. Die Täter werden von keiner Psychologie dingfest gemacht, ihre Motive bleiben atmosphärisch: im Sinne eines angespannten gesellschaftlichen Klimas. Heute ist dieser unwillkommene Film derjenige, zu dem er die meiste Post erhält. Man wird nicht schnell fertig mit Bonellos Filmen. Die Zeit arbeitet für sie.

 

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt