Die Hölle sind nicht die anderen

»Kopfplatzen« (2019). © Salzgeber

Es gibt eine weitere Szene in »Kopfplatzen«, die für einen Augenblick ebenso wenig determiniert erscheint wie der gestern erwähnte. Sie ist fast komödiantisch. Markus ist bei seiner Nachbarin und ihrem Sohn zum Essen eingeladen und kann sich nicht zwischen den Hemden, Hosen und Pullovern entscheiden, die er auf dem Bett bereitgelegt hat. Wie zieht sich ein Pädophiler zu einem Date an?

Ergebnisoffen ist der Moment selbstverständlich nicht. An seinem Ende übt Markus ein, wie er den kleinen Jungen begrüßen soll. Der Film kann ihn aus seiner Rolle nicht entlassen. Dennoch ist dies eine kurze, ganz kurze Parenthese, für die er ihn aus seiner Anspannung befreit. Das Motiv des Spiels (Schach, Fußball) ist zentral für den Film, aber die Ausgelassenheit steht unweigerlich unter Vorbehalt. Nichts, was Max Riemelt hier spielt, besitzt Selbstverständlichkeit.

Beim Sehen von »Kopfplatzen« musste ich oft an einen Ahnen dieses Films denken. Nein, nicht an Kubricks »Lolita«, denn es gebricht Savaş Ceviz an dessen Boshaftigkeit, sondern an »The Mark« (Gebrandmarkt), den Guy Green 1961 in Großbritannien drehte. Der gerade verstorbene Stuart Whitman spielt Jim Fuller, der wegen Unzucht mit Kindern im Gefängnis saß und nun wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden soll. Die Zeichen dafür stehen gut, der Film etabliert zunächst ein Klima des Wohlwollens. Sein neuer Chef und dessen Sekretärin (Maria Schell) wissen um seine Haft (kennen aber nicht deren Grund) und geben ihm bereitwillig eine neue berufliche respektive romantische Chance. Er erfährt tatkräftige Unterstützung durch seinen Therapeuten (ein überraschend erträglicher Rod Steiger), wenngleich die Gruppentherapiesitzungen eher traumatisierend sind. Als ein kleines Mädchen entführt wird, unter ähnlichen Umständen wie damals, wendet sich das Blatt allmählich. Ein Reporter erschleicht sich Jims Vertrauen und verrät es. Er ist unschuldig, hat ein Alibi. Aber nun sieht auch die Witwe Maria Schell in ihm eine Bedrohung für ihre Tochter.

Das war auf den ersten Blick eine ungewöhnliche Rolle für den kantigen Whitman, der vorwiegend aus Kriegsfilmen und Western vertraut war. Er wurde gewiss mit festem Blick auf den US-Markt als Sympathieträger besetzt. Ursprünglich war Richard Burton für sie vorgesehen (»Who would dare play a pedophile?« fragt Tony Crawley auf seiner Seite »Casting Calls«), was reizvolle Phantasien freisetzt. Die Besetzung Whitmans ist ein glorreiches Missverständnis, das mit einer Oscarnominierung gekrönt wurde. Aber er ist gut im Rahmen seiner Grenzen. Schön, dass er sich das zugetraut hat. Es ist seine beste Rolle neben der des US-Piloten, den in »Le Jour et L'heure« (Nacht der Erfüllung) die Résistance und Simone Signoret retten wollen und des Nordstaatlers in dem sublimen »Rio Conchos«. Wie in »Gebrandmarkt« zeigt er dort unverhoffte Fragilität und trifft auf eine willensstarke Frau. Insgeheim, das verrät schon die Besetzung, ist das ein Film der Entwurzelungen: Whitman spielt einen Kanadier, Steiger laboriert mit einem schottischen Akzent herum und Schell ist eben Schell. (Auch in »Kopfplatzen« gibt es eine mundartliche Verschiebung: Riemelt und Gerschke ist anzuhören, dass sie aus Berlin bzw. Potsdam stammen.)

»Gebrandmarkt« (der in England bei Odeon in einer guten DVD-Ausgabe ohne weltbewegendes Bonusmaterial erschienen ist) bleibt gefangen in den wuchtigen Konventionen des britischen Sozialdramas der Zeit: mutig, aber nicht in letzter Konsequenz. Jims Neigung zu jungen Mädchen ist nicht ausgeprägt, sie war eine kurze Verirrung nach einer gescheiterten Beziehung und wird durch seine dominierende Mutter erklärt. Der Film ist getragen von der damaligen anglo-amerikanische Bejahung der Psychoanalyse als reinigendem Ritual: Jim ist therapierbar. Kein Täter, sondern Opfer. (Lindsay Anderson oder ein anderer Regisseur des aufbrechenden Kitchen-Sink-Kinos hätte das ein, zwei Jahre später vielleicht schon anders erzählt.) Die Hölle sind in »Gebrandmarkt« die anderen. Einer der zwei Drehbuchautoren, Sidney Buchman, stand in Hollywood auf der Schwarzen Liste.

Die öffentliche Ächtung spielt in »Kopfplatzen« eine untergeordnete Rolle. Seine Familie kehrt sich von Markus ab. Die Szene, in der sich seine Schwester von ihm am Krankenbett verabschiedet, ist berührend wegen ihrer Ratlosigkeit: Sie gibt ihm dennoch einen Kuss auf die Stirn. Ein nebensächliches und deshalb bereicherndes Detail ist, dass sie ein zweites Kind erwartet. Sonst findet »Kopfplatzen« wenig Raum für Nachrangiges. Dem Kino sind seit »Gebrandmarkt« immense Freiheiten zugewachsen, die Kategorien des Zeigbaren haben sich erweitert. Aber auch Savaş Ceviz ringt mit den Konventionen seiner Zeit, dem psychologischen Sozialrealismus, der gefügt ist nach dem Wirklichkeitsbegriff der Fördergremien und Fernsehredaktionen. Dieses Kino muss sich verantwortlich artikulieren, muss dies deutlich (die Wolfsmetapher wird oft genug bemüht) und eindeutig tun. Es darf nicht die Phantasie entwickeln, auf unverzichtbare Szenen zu verzichten.

»Kopfplatzen« verletzt diese Gebote nicht. »Wenn Du eine Figur berührst«, erklärt Markus dem kleinen Arthur beim Schachspiel, »musst du sie auch führen.« Aber in der unbedingten Konzentration erfüllt der Film diese Gebote mit einer verstörenden Unmittelbarkeit. Für anderthalb Stunden macht er uns zu Teilhabern eines Lebens, in dem es keine Aussicht auf Glück geben kann.

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