Aussichten und eine Hymne

Normalerweise mache ich wir wenig Gedanken über das Wetter in Los Angeles. Es betrifft mich nicht und ich kann auch nichts an ihm ändern. Aber seit David Lynch Anfang dieser Woche begann, täglich vom Klima in seiner Heimatstadt zu berichten, höre ich ihm gebannt zu.

Dabei änderte es sich bislang kaum. Die ersten beiden Meldungen waren praktisch identisch, unterschieden sich nur in der Datumsangabe. Das Ritual der 30sekündigen Botschaften ist immer gleich. Der Regisseur sitzt in einem hochgeknöpften blauen Hemd an seinem Schreibtisch. Sein Blick adressiert das Publikum, während er es höflich begrüßt. Sodann wendet Lynch sich zum Fenster, um die aktuelle Lage zu schildern. Eine Karte braucht er nicht. Die momentane und zu erwartende Temperatur nennt er zuvorkommend nicht nur in Fahrenheit, sondern auch in Celsius. Zum Abschied wünscht er allen einen guten Tag.

Das ist eine private Dienstleistung, die Lynch ohne erkennbare Ironie erbringt. Über ihre Beweggründe ließe sich herrlich spekulieren, aber für heute will ich es mit der Erinnerung daran bewenden lassen, dass seine Filme stets empfindsam für meteorologische Wechselfälle waren, sowie der Feststellung, dass dieser frohgemute Minimalismus seine Werk eine reizvolle Nuance hinzufügt. Seine Wirkung verfehlt dieses Lebenszeichen in diesen Tagen nicht. Tatsächlich ist diese Unternehmung ein Remake: Auf Youtube kann man sehen, dass Lynch diesem Faible schon vorher nachging, nach exakt gleichem Muster, anscheinend aber wohl nur sporadisch (etwa an Halloween 2008). Bei seinem aktuellen Weather Report hingegen zählt die Regelmäßigkeit: Er muss auf dem Posten sein, darf keinen Tag auslassen. Der unerschütterlich gelassene Ton seiner Berichte zeugt in der Tat von Verlässlichkeit. Die Quarantäne ficht ihn nicht an. Kein Zweifel, dieser Chronist wird auch einer instabilen Wetterlage gewachsen sein.

Seit 2008 ist Lynch älter geworden. Es dauert inzwischen einen Sekundenbruchteil länger, wenn er den Kopf empor zum Fenster reckt. Vor allem jedoch hat er an einer gewissen, reifen folksiness zugewonnen, die enorm an Jimmy Stewart erinnert. Fürwahr, er klingt ebenso besonnen und vertrauenswürdig. Man glaubt ihm jedes Wort. Das ist wichtig, weil er eben nicht nur vom aktuellen atmosphärischen Geschehen berichtet, sondern eine Vorhersage trifft. Sie beruht auf jahrzehntelanger Anschauung. Die abwartende Kraft der Sonne, welche sich endgültig gegen Mittag einen Weg durch die Wolken bahnt, ist eine Konstante, die auch ich mit dem Wetter in Los Angeles assoziiere. Meine dortigen Freunde benutzten jedoch meist den Begriff "burning through", nicht Lynch' energischeres "burning off". Am gestrigen Mittwoch trug seine Zuversicht bereits Früchte: Der Himmel war schon morgens nicht mehr bedeckt, vielmehr trieben nur ein, zwei kleine Schönwetterwolken an seinem Fenster vorüber. Heute schien die Sonne sogar noch kräftiger. Meine Befürchtung, Lynch würde sein blaues Hemd gegen ein andersfarbiges eintauschen, hat sich bisher nicht bestätigt.

Noch ein weiterer US-Regisseur hat gerade die Temperatur seiner Heimatstadt gemessen: Spike Lee. Auch er ist ein Meister urbaner Atmosphäre, aber damit erschöpfen sich die Ähnlichkeiten. "New York, New York", das Lee vor ein paar Tagen auf Instagram postete, hat eine ganz andere Durchschlagskraft: Kein Mikroklima wie bei Lynch, sondern ein furioses Panorama der Stadt, deren Namen man lieber gleich zweimal nennt. Sinatras Hymne gibt, mit Erlaubnis seiner Tochter Tina, dann auch den Takt des dreiminütigen Films vor. Er beginnt am Strand von Coney Island und streift sodann in frenetischem Tempo durch alle fünf Boroughs. Lees Montage verknüpft touristische Wahrzeichen mit persönlichen; die Metropole ist präsent in all ihren Facetten. Sie scheint zu pulsieren, trotz Lockdown, und sie blüht auf. Der Natur ist die Pandemie egal, sie spürt nur, dass jetzt Frühling ist. Erst nach einer Minute sind erste Fahrzeuge auf den Straßen zu sehen, dann treten vereinzelt Menschen auf den Plan.

Sogleich spielen sie eine glorreiche Rolle in Lees Film, als first responders, als vermummtes Personal in den Lazaretten und Trauma-Ambulanzen. Auch die Passanten sind heroisch. Die Bewohner, die den Helfenden abends von ihren Balkonen applaudieren, ebenfalls. Diese filmische Lebensbejahung ist nicht trotzig, sondern achtsam. Ihr eignet jedoch eine nostalgische Aura, denn Lee hat sich von Kodak altes 8mm-Material besorgt. Die Stadt, die niemals schläft, erwacht im Eastmancolor der 50er Jahre, mit weichen Konturen, und doch scharf gestochenem Blick. Kurz schimmert sie auch in Schwarzweiß, etwa beim Anblick des Globus' der Weltausstellung von 1964, dem baufälligen Symbol der Hoffnung auf unbegrenzten technischen und zivilisatorischen Fortschritt.

Ich habe den Film fünf oder sechs Mal gesehen in den letzten Tagen, immer mit anderen Gefühlen. Einmal dachte ich kurz, die Stadt funktioniert ja auch prächtig ohne Menschen, was vor allem an der beschwingten Vitalitätsbeschwörung von Frankieboy lag. Ich fragte mich, ob es wirklich die passende Leitmelodie dieser Hommage ist. Dann belehrte mich Spike Lee rasch wieder eines Besseren, in dem er mir die medizinische Notfallversorgung zeigte. Die Schauplätze warten mit brennender Ungeduld darauf, dass die Akteure zurückkehren.

"New York, New York" ist das Stück, das jetzt allerorten aus den Wohnungen und von den Balkonen erklingt, wenn die New Yorker pünktlich um 19 Uhr die Helden des Alltags feiern, in dem sie in ihre Hände klatschen. Das war nach dem 11. September ebenso. In der „New York Times“ las ich heute morgen einen Artikel über die erstaunliche Entstehungsgeschichte von John Kanders und Fred Ebbs Festgesang auf die Stadt, ihre Verlockung und ihre Bewohner. Er klang erst ganz anders. Das Duo hatte ein Titelstück für Martin Scorseses Musicaletüde "New York, New York" komponiert, das zwar dem Regisseur gefiel. Aber sein Hauptdarsteller Robert De Niro fand es zu schwach für diese Stadt. Er beschwor Scorsese, auf eine neue Version zu dringen. Die gestandenen Komponisten waren gekränkt (was weiß schon ein Filmschauspieler davon?), gingen dann aber doch noch einmal in Klausur. De Niros Widerstand war klug. Im Film singt Liza Minelli das Stück. Sinatra zögerte lang, er fand, dass es ihr gehörte, ließ sich aber von seiner Frau überreden, es zu interpretieren. Der Rest ist nicht nur Geschichte, sondern lebhafte Gegenwart. Lieder gehören, ebenso wie Städte, denen, die sie lieben und verstehen.

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