Aufrecht

Heute vor 50 Jahre kniete Willy Brandt vor dem Ehrenmal der Toten des Warschauer Ghettos nieder. Ich nahm damals keine Notiz davon. Als Neunjähriger interessierte ich mich noch nicht so sehr für Ostpolitik. Ich brauchte ein paar Jahrzehnte, um zu der Überzeugung zu gelangen, dass dies der wichtigste Augenblick in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte ist.

Außerordentlich stark wahrgenommen wurde dieser Moment seinerzeit ohnehin nicht. Bestimmt liefen Bilder davon in den Fernsehnachrichten. Die werde ich vielleicht sogar gesehen haben. Aber insgesamt war, mit Ausnahme des Nachrichtenmagazins »Der Spiegel«, die Resonanz offenbar sehr gedämpft. Die Verneigung des Bundeskanzlers war eine unerwartete, unverlangte und auch nicht allerorten willkommene Geste. Im konservativen Milieu meiner Eltern herrschte beklommene Empörung. Auch im Wikipedia-Eintrag fand ich kein eAnzeichen einer damals überwiegenden Zustimmung. Die Reaktionen in Israel waren unschlüssig, auch in Polen wusste man anfangs nicht, wie mit ihr umzugehen sei. In den dortigen Nachrichten und auf Zeitungsfotos wurde jeweils ein Bildausschnitt gewählt, der zwar zeigte, dass Brandt sich vor dem Ehrenmal befand, aber nicht, dass er niederkniete. In den Medien der DDR war überhaupt nichts über seine Geste zu erfahren.

Zwischen der BRD und Polen gab es bis zu Brandts Besuch 1970 und der Unterzeichnung des »Warschauer Vertrags« keine diplomatischen Beziehungen. Das Kriegsende lag 25 Jahre zurück. Es konnte nicht einfach um eine gedeihliche, gemeinsame Zukunft gehen. Die Schuld, die Deutschland diesem Land gegenüber trug, musste im Verlauf der Verhandlungen eine Rolle spielen. Der Kanzler hätte in diesem Sinne eine Rede halten können. Das wäre normalerweise durch deutsche Mentalität und Tradition gedeckt gewesen. Das Schweigen der Täter und der Opfer, das irgendwie notwendig erschien für den Wiederaufbau nach dem Krieg, wäre gebrochen worden. Brandt wäre rhetorisch dazu zweifellos in der Lage gewesen. Aber an Reden erinnert man sich allenfalls ausschnitthaft. Im Moment hört sowieso nicht jeder zu, und die Simultanübersetzung stellt oft einen Abstand her oder führt zu Missverständnissen. Ich glaube, der Kanzler vertraute auf seinen Instinkt. Ob er tatsächlich ahnte, dass seine Geste ikonenhaft werden sollte, darf man infrage stellen. Es war keine Berechnung darin.

In den Zeugenberichten der Anwesenden, auf deutscher Seite waren das er selbst, Walter Scheel und vor allem Egon Bahr, herrscht eine erfreuliche Unstimmigkeit darüber, ob er mit Vorsatz handelte. Bahr spürte wohl, dass er etwas vorhatte, in das er aber niemanden einweihte. Eine solche Geste muss spontan wirken, aber natürlich muss ihr zugleich eine innere Einstimmung vorangehen. Dennoch glaube ich an einen Genius des Augenblicks. Möglicherweise hätte es genügt, wenn er den Kranz niedergelegt und dann die Schleifen zurechtgerückt hätte. Das ist das übliche Ritual in einer solchen Situation, dessen Zeuge wir unzählige Male im Fernsehen waren. Auch dies sehe ich mit anderen Augen seit dem 7. Dezember 1970: Es scheint mir sinnerfüllt dank des Mehrwertes, den Brandt ihm gab. Politiker bezeugen auf diese Weise Respekt. Sie mögen es es reflexhaft oder pflichtschuldig tun. Aber seit diesem Datum liegt mehr darin: ein würdiges Erbe.

Mit Willy Brandts Kniefall änderte sich brüsk auch die Atmosphäre, die während dieses Staatsaktes und zwischen den zwei Ländern herrschte. Bahr und Scheel beschrieben sie als eisig bis zu diesem Moment. Dann kam dieser Umschlagspunkt. Es war unerhört und erst einmal unfassbar, was in ihm geschah. Eine Geste der Demut fand statt. Einer, der selbst im Widerstand in Norwegen gekämpft hatte, verbeugte sich vor den Opfern des Naziterrors. Er erniedrigte sich nicht; niemand zwang ihn dazu. Ein Spin-Doctor hätte ihm heute vielleicht zu einer solch christlichen Bitte um Vergebung geraten; angemessen in einem katholischen Land. Aber damals wurde Polen kommunistisch regiert. Da waren die Vergangenheit und die Gegenwart des Kalten Krieges und die Hoffnung auf Annäherung im Spiel. Ich vermute, Brandt tat es erst einmal aus sich heraus und in der Hoffnung, dass er auch im Namen seines Landes handelte.

Weshalb geht man vor etwas oder vor jemandem in die Knie? Man unterwirft sich einer höheren Macht, aus religiöser Verehrung oder aus geschuldetem Respekt. Früher gab man auf diese Weise auch ein Heiratsversprechen aus oder buhlte darum. So oder so ist das Alles eine Wette auf die Zukunft. Wer in die Knie geht, ist verletzbar. Er ist in keiner guten Position, um zu kämpfen. Ich glaube, Egon Bahr sagte damals, vor einem solchen Deutschen musste man keine Angst mehr haben. Lew Kopelew befragte einen Überlebenden des Warschauer Ghettos, der ihm sagte, mit einem Mal sei sein Hass auf die Kriegsgegner erloschen. Dass auch im zweiten wichtigen Ereignis der deutschen Nachkriegsgeschichte die Silbe »fall« eine Rolle spielt, besitzt schöne Triftigkeit.

In einem Land freilich wie dem unsrigen, wo es immer einen gibt, der es noch besser weiß, regten sich 1970 (und tun es auch heute, wie ich in den letzten Tagen lesen musste) Einwände. Willy Brandt habe sich vor dem falschen Ehrenmal verneigt, es seien immerhin ebenso viele Polen von den Nazis getötet worden, die nicht Juden waren. Welch unerträglicher Hochmut gegenüber dieser ersten Geste! Er erinnert mich an die sowjetischen Propagandafilme über die Befreiung der Konzentrationslager, deren Ideologie vorschrieb, nur von russischen Opfern zu sprechen und auf keinen Fall von jüdischen.

Im Sommer 2018 besuchte ich in Warschau. Wir verbrachten einen ganzen Tag in dem Stadtteil, in dem früher das Ghetto gelegen hatte. Er atmete Vergangenheit und Zukunft. An erstere gemahnten fast nur noch Denkmäler, ansonsten herrschte dort vor allem Gegenwart. An dem Tag war das Museum der polnischen Juden geschlossen. Insgeheim war ich froh darüber. Der Platz mit dem Ehrenmal, der ihn gegenüberliegt und nun nach Willy Brandt benannt ist, war mir Erinnerungsort genug. Wir mussten ihn zuerst mit einigen Schaulustigen teilen, die Touristen waren wie wir. Aber die verschwanden nach einer Weile. Es war gut, dort für einen Augenblick allein zu sein.

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