Auf den Schultern von Riesen

Sam Wasson versteht es, Insiderwissen zu popularisieren. Der Autor ist ein fleißiger Rechercheur, der seine Erkenntnisse launig und prägnant formulieren kann. Von ihm stammt eine bemerkenswerte Bob-Fosse-Biographie und eine muntere Chronik der Entstehung von »Frühstück bei Tiffany«. Sein jüngstes Buch "The Big Goodbye" handelt von den schillernden Persönlichkeiten, denen wir »Chinatown« verdanken, und hat Wasson seinen ersten Filmvertrag eingebracht.

Paramount hat die Rechte gekauft und Ben Affleck als Regisseur und Autor verpflichtet. Das klingt für viele Ohren verheißungsvoll. »Deadline« frohlockte, dass die Besetzung der zentralen Akteure – Roman Polanski, Robert Towne, Robert Evans, Jack Nicholson, Faye Dunaway – ganz sicher Talente anziehen wird, die auf Hollywoods A-Liste stehen. Es sind schließlich sämtlich überlebensgroße Figuren. Und „Chinatown“ ist ein epochaler Film, der nicht nur eine intrigierende Detektiv- und Liebesgeschichte erzählt, sondern auch Schlaglichter wirft auf die Stadthistorie von Los Angeles. Alles in allem eine geballte Ladung Nostalgie und Mythos. Paramount will "The Big Goodbye" unbedingt machen, nicht zuletzt, weil man sich dem einstigen Studio-Retter Evans verpflichtet fühlt. Ich glaube nicht, dass der Film je gedreht wird.

Meine Skepsis rührt weniger aus der Sorge vor Klagen von Beteiligten, die ihre Persönlichkeitsrechte verletzt sehen könnten. (Außer Evans und John Huston leben die Protagonisten noch alle.) Es ist auch nicht so, dass ich Affleck diese Aufgabe nicht zutrauen würde. Zwar erschrickt mich jedes Mal die Leere, die ich in den Augen des Schauspielers erblicke. Aber er hat sich, wenn man »Live by Night« mal ausnimmt, bisher als ein gescheiter Regisseur erwiesen. »Gone, Baby, Gone« und »The Town« zeigen sein schönes, impressionistisches Gespür für Urbanität (gewiss, da handelte es sich um seine Geburtsstadt Boston, aber Los Angeles dürfte ihm inzwischen ja auch vertraut sein) und »Argo« hat einen ulkigen Hollywood-Dreh (vor allem dank Alan Arkin).

Nein, ich nehme vielmehr an, man wird bald merken, dass "The Big Goodbye" in etwas tappen wird, was ich Fiktionsfalle nennen möchte. Es gibt zwar eine ganze Menge Spielfilme über Dreharbeiten zu fingierten Filmen, aber nur einige wenige über tatsächliche. Für die erste Kategorie darf man eine gemischte Bilanz ziehen, aber keiner, der der zweiten angehört, ist wirklich gelungen. Man muss nicht gleich mit den Drehbuch-Gurus argumentieren, die fragen, wo bei derlei wahren Begebenheiten denn eigentlich der Konflikt steckt und die Plotpoints? Aber es ist schon der Frage wert, ob sie tatsächlich eine erzählerische Dimension gewinnen, die über den Erkenntnisgewinn eines guten "Making of" (auf der jüngsten Blu-ray von „Chinatown“ gibt es ein exzellentes), Dokumentarfilms oder eben Buches hinausreicht. Es ist verblüffend, bei Wasson zu erfahren, dass Towne, der König der Ghostwriter Hollywoods, selbst einen Geheimschreiber hatte. Das entspringt einem journalistischen, cinéphilen oder Fan-Interesse. Aber wie aufregend kann diese Entdeckung für einen Zivilisten sein?

Allerdings sind die Drehbücher der einschlägigen Filme durchaus durch die Schule der Gurus gegangen. Sie bessern nach, wenn die Wirklichkeit nicht dramatisch genug scheint und erzählen immer noch eine andere, hauptläufigere Geschichte als die des künstlerischen Schaffensprozesses. In "Hitchcock" geht es natürlich um "Psycho" und den Zugzwang, in dem sich der Regisseur in diesem Moment seiner Karriere befindet, aber vor allem erzählt der Film eine romancierte Ehekomödie. »Mackie Messer- Brechts Dreigroschenfilm« handelt weniger von G.W. Pabsts Verfilmung, sondern vom Scheitern von Brechts weit radikaleren Drehbuchentwurf. (Das Scheitern grandioser Projekte ist ohnehin viel spannender, man denke nur an die Dokumentationen über Gilliams »Don Quixote« oder Jodorowskys »Dune«.) »Weißer Jäger, schwarzes Herz« erzählt zwar auch von den Dreharbeiten zu »African Queen«, aber Clint Eastwood hat sichtbar stärkeres Interesse am hochmütigen Gebaren John Hustons und dessen tragischen Konsequenzen; er hat auch Entscheidendes zu sagen über kolonialistische Anmaßung. »Shadow of the Vampire« wiederum nimmt eines der zählebigsten Gerüchte der Filmgeschichte beim Wort: dass sich hinter dem Hauptdarsteller von »Nosferatu«, Max Schreck, kein Schauspieler, sondern ein echter Vampir verbirgt. Daraus entwickelt er eine wüste Kolportage, in deren Zentrum wie bei Eastwood ein Regisseur steht, der über Leichen geht.

Kommerziellen Erfolg erzielte keines der Beispiele. Solche Insider-Stoffe interessieren offenkundig eher Filmemacher als ein breiteres Publikum. Dennoch tauchen auf der wirkungsmächtigen "Black List" (siehe Eintrag „Außerordentlich, ungeheuerlich, unglaublich vom 31.12.2016 und seine Fortsetzung am 4.1. 17) regelmäßig Drehbücher auf, die von spektakulären Entstehungsgeschichten handeln. In der letztjährigen etwa »Searchers«, wo es um das angespannte Verhältnis zwischen John Wayne und John Ford während des Drehs zu »Der schwarze Falke« geht. In früheren Listen fanden sich gleich zwei Titel zur Genese von »Der Pate«, auch die, zumal unter technischen Gesichtspunkten, haarsträubende Entstehung von »Der weiße Hai« inspirierte ehrgeizige Autoren; in »Chewie« werden die Dreharbeiten zu »Krieg der Sterne« aus der Perspektive von Peter Mayhew geschildert, der Chewbacca verkörperte. Ich nehme an, sie sind gnädig vergessen. Jedenfalls hat man seither nichts mehr von diesen Plänen gehört; indes soll demnächst ein Bühnenmusical Premiere feiern, das nach der wankelmütigen Hai-Attrappe "Bruce" benannt ist. Es fällt auf, dass mit Ausnahme von »Searchers« alle Stoffe in der Epoche des New Hollywood angesiedelt sind, dem so genannten letzten Goldenen Zeitalter des amerikanischen Kinos, als Aubruch herrschte und andere Bilder gefunden werden konnten für Amerika. Auch »Chinatown« entstand in dieser heroischen Epoche. Für Wasson markiert er deren Schwanengesang: Danach konzentriert sich die Abenteuerlust der Studios und Filmemacher auf das Blockbusterkino.

Ich kann schon nachvollziehen, was Autoren und Regisseure heute daran begeistert. Der Aufbruch, die immense Kreativität dieser Zeit besitzt einen Glanz, von dem Epigonen hoffen mögen, dass er ein wenig auf sie abfärbt. Es ist verlockend, sich mit dem Durchsetzungsvermögen von Filmemachern zu identifizieren, die den Widerstand des Systems überwunden haben. Zugleich ist diese Generation gar nicht so fern: Sie fußten auf dem klassischen Hollywood, ihr Kino war vom Kino inspiriert, sie waren Siegelbewahrer auf dem Sprung. (Insofern widerspricht »Searchers« dieser Logik nicht.) Natürlich ist diese Identifikation ein Trittbrettphänomen. Und ein exklusives obendrein, gefangen im Spiegelkabinett einer Branche. Mein ungebetener Rat würde also lauten: "Vergiss es Ben, das ist Tinseltown." Natürlich wäre es wundervoll, wenn ich mich im Fall von "The Big Goodbye" irrte. Aber eigentlich genügt mir das Original schon vollends. Es lässt Fragen offen, aber keine Wünsche. 

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