Üppige Melancholie

Als ich »Beale Street« in der Pressevorführung sah, erinnerte mich die Musik sehr an Terence Blanchards Partitur zu Spike Lees Verfilmung von »Clockers«. Der Vergleich lag insofern nahe, als beide Filme durch ihren Schauplatz verbunden sind: Harlem. Verwandt schienen mir beide Scores jedoch vor allem in ihrer wuchtigen sinfonischen Anmutung, die man nicht sofort mit diesem Stadtteil assoziiert.

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Nicholas Britell »Clockers« kannte, als er die Musik für Barry Jenkins' Film schrieb. Aber ich bezweifle inzwischen, dass er von Blanchard inspiriert oder beeinflusst wurde. (Kurioserweise konkurrierten sie in diesem Jahr um einen Oscar, der dann jedoch an »Black Panther« ging.) Bereits seine erste Zusammenarbeit mit Jenkins bei „Moonlight“ hatte mich sehr beeindruckt, aber »Beale Street« hing mir noch stärker nach; zumal die machtvollen Bläser-Partien hatte ich seither im Ohr. Zum ersten Mal seit ewigen Zeiten bekam ich Lust, mir den Soundtrack zu einem aktuellen Film zu besorgen.

Natürlich ist das Album anders konzipiert als der Einsatz der Musik im Film; es hat seinen eigenen Aufbau, seine eigene Logik des Aufgreifens und Variierens. Aber mein atmosphärischer Eindruck stimmt überein mit dem Hörerlebnis beim Sehen. Was mich fasziniert, ist die Entschlossenheit, mit der Britell seiner Partitur eine unerwartete orchestrale Üppigkeit verleiht. Dabei kommt er, soweit ich weiß, vom Hip-Hop. (Er ist allerdings ein Weißer.) Seine Komposition ist eine eigene, selbstbewusste erzählerische Instanz, neben der Regie, den Schauspielern und dem Licht. Eigenständig ist sie nicht, vielmehr schmiegt sie sich dem Film an: Sie hört auf ihn, gibt sich als eine empfindsame Wahrnehmung zu erkennen. Sie hat Teil an dem Sog, den »Beale Street« ausübt.

Dabei scheint sie mir nicht die Charaktere zu porträtieren (obwohl eins der Stücke nach Fonny benannt ist), sondern für den Film einzustehen. Sie reagiert auf seine Themen, Stadt, Liebe, Verhängnis. Die Bläser repräsentieren die Welt, vielleicht die Übermacht der Verhältnisse (oder den Atem des Schicksals); die Streicher (das Cello!) stehen für die Liebe des Paares, die ihnen trotzt. Britells Komposition ist erwartungs-, aber vor allem ahnungsvoll. Es gibt, natürlich, Widerstreitendes darin, aber es braucht – zumindest auf dem Album, im Film müsste ich dies noch einmal überprüfen -, eine ganze Weile, bis sie dissonanter wird, etwa bei dem irrlichternden Saxophon, das sich später Gehör verschafft. Auch die Rhythmik wird ausgefallener, jedoch so unterschwellig, dass es beim Sehen wohl kaum auffällt. Zwischendurch klingt der Score auch mal raunend. Der Gesamteindruck des Träumerischen, einer melancholischen Pracht bleibt davon unberührt: Britells Partitur fängt das Schweben des Films auf. Die Instrumente (es kommen immer neue hinzu, etwa das Klavier, das erstmals in »Agape« eine wichtige Rolle spielt) antworten aufeinander, sie gesellen sich zueinander in der jeweiligen Andersartigkeit ihres Klangs.

Einige Titel der Stücke greifen ins Altertum zurück, »Eros« und »Econium« (es geniert ihn offenkundig nicht, seine Ambitionen auszustellen); sie verweisen auf die Bibel, »Eden« und natürlich »Agape«, das neutestamentarische Wort für die göttliche Liebe. Dieses Stück hat tatsächlich ein Eigenleben entwickelt, ein unverhofftes überdies. Auf Youtube findet sich ein unlängst wiederentdeckter und von der University of Southern Californioa rekonstruierter Film von 1898, der als die erste filmische Darstellung eines schwarzen Liebespaares gilt: »Something Good – Negro Kiss«. Zweifellos war er eine Replik auf die Edison-Produktion »The Kiss«, den ersten Filmkuss, der zwei Jahre vorher gefilmt wurde und dem neuen Medium seinen wahrscheinlich ersten Sittenskandal bescherte. »Something Good« dauert kaum eine halbe Minute, das genügt aber als frühe, kraftvolle Geste der Ermächtigung. Er ist überschwänglich und freudvoll. So würde er gewiss auch ohne Britells Musik wirken. Aber auch ihm schmiegt sie sich wundervoll an. Der Filmclip wäre ein schöner Bonus für die DVD von »Beale Street«: Er feiert ein Vermächtnis, das lange verschollen war, erinnert daran, dass die Geschichten, die lange Zeit vom US-Kino unterschlagen wurden, schon immer darauf warteten, erzählt zu werden.

 

 

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