Modus operandi

Ich hätte schon Lust, einmal in die Aufräumshow von Marie Kondo hineinzuschauen. Möglicherweise würde ich mir eine ganze Folge ansehen - sie macht momentan ja ziemlich Furore -, vielleicht sogar mehrere. Aber wenn, dann unbedingt in der falschen Reihenfolge, schon aus Boshaftigkeit.

Für einen wie mich muss ihre Sendung eine Tortur sein. Zwar schätze auch ich Ordnung, aber eher aus der Ferne. Ich bin immer erstaunt, wenn ich Wohnungen betrete, in denen alles an seinem Platz ist. Ganz wohl fühle ich mich nie darin, auch wenn ich die Gastgeber vielleicht heimlich für diese Kulturleistung bewundere. Während eines Festivals holte ich einmal einen Kollegen aus seinem Hotelzimmer ab, der sehr wüste Texte schreibt. Ich war verblüfft, wie akkurat er sämtliche Pressehefte, Broschüren, Zeitungen und Bücher auf dem Tisch arrangiert hatte. Seither lese ich seine Artikel mit anderen Augen.

Diese Lebensweise wird ihre Vorteile haben. Dinge sind leichter auffindbar, man hat mehr Raum zur Verfügung, wenn man sich von Überflüssigem trennt. Aber wenn ich ehrlich bin, sind mir aufgeräumte Naturen immer ein wenig suspekt. Sie verkörpern eine Art von Vernunft, die ich seelenlos finde. Noch schlimmer ist es natürlich, wenn sie andere bekehren wollen. Solche Heilsversprechen hält man sich besser vom Leib. Es ist kein Zufall, dass Kondo aus Japan stammt, wo der Wohnraum notorisch begrenzt und teuer ist. Da kann man schon auf so verheerende Ideen kommen. Aber gibt es ihr das Recht, die ganze Welt mit ihrem Zuchtmeister-Lächeln zu tyrannisieren?

Das würde gewiss noch mehr gefrieren als ohnehin, wenn sie je meine Wohnung beträte. Sie müsste ihr wie eine Vorhölle erscheinen, die gründlich ausgemistet gehört. Ihr eiserner Ehrgeiz wäre geweckt. Entgeistert würde sie fragen, ob mir all die Bücher, DVDs und VHS-Cassetten, in die ich seit Menschengedenken nicht hineingeschaut habe, denn wirklich noch "Freude" bereiten? In dem Moment würde mein Geduldsfaden reißen. Ich weigere mich, Kunstgenuss auf ein innenarchitektonisches Problem zu reduzieren. Natürlich könnte ich in den Regalen mal wieder Ordnung schaffen. Man ist ja gar nicht auf dem Laufenden, was man alles hat und was nicht. Seit langem bietet mir eine Freundin an, ein Computerprogramm für mich einzurichten, in dem die Daten aller DVDs abgefragt werden können. Ich sehe dessen Nutzen. So hätte ich zum Beispiel früh genug entdeckt, dass ich »Im Namen des Gesetzes« von Pietro Germi nicht noch mal kaufen muss. Ich hätte ihr allerdings auch nicht die DVD von Claude Sautets "Schieß, wenn Du kannst" überlassen, von der ich glaubte, sie doppelt zu haben. Bisher habe ich ihr Angebot dankend abgelehnt. Ich suche eben gern.

Gewiss, auch ich weiß die Erleichterung zu genießen, wenn ich im Kleiderschrank mal wieder Platz schaffe und chronisch Ungetragenes zum Container der Stadtmission bringe. Es gefällt mir auch, wenn die Papierstapel, die allerorten verstreut sind, turnusmäßig kleiner werden. Diese Sisyphus-Arbeit nehme ich gern auf mich: aber nur, wenn sie die orgiastische Ausnahme ist und kein tagtägliches Diktat. Selbstredend verzweifle auch ich zuweilen angesichts des ganzen Durcheinander. Es kann ja nicht ewig so weiter gehen, dass man stundenlang nach irgendeinem Zettel oder Artikel sucht, den man gerade dringend braucht. Dann gelobe ich kurzfristig Besserung. Aber bald danach kehrt die Einsicht zurück. Ich vermute nämlich, das meine Freude am Wiederfinden viel größer ist als die Genugtuung, die Ordnungsliebende empfinden.

Es kommt bei der Wühlerei immer so viel Erstaunliches ans Licht, das ich mittlerweile vergessen hatte. Heute morgen beispielsweise forschte ich nach Filmnotizen, auf die ich in der nächsten Woche für einen Text zurückgreifen muss. Was ich dabei nur alles für Zettel entdeckte! Darunter war eine Sammlung von Formulierungen, die ich irgendwo aufgeschnappt habe und später mal für einen eigenen Text stehlen will (die verrate ich natürlich nicht); eine Liste mit möglichen Themen für diesen Blog (meist hinfällig, ohne dass die Welt sie vermisst hätte) sowie ein, zwei Geburtstage, zu denen ich etwas schreiben will (Lino Venturas 100. im nächsten Juli). Das Zitat aus »Der Trafikant« ("Eine schlechte Zigarre schmeckt nach Pferdemist, eine gute nach Tabak. Eine sehr gute schmeckt nach der Welt.") hatte ich seinerzeit einem Freund vorlesen wollen, der meine Passion teilt. Der Zettel mit dem Anfang für einen ewig bestellten Nachruf auf Richard Lester ("Kein anderer Regisseur war in den 60er Jahren so pünktlich zur Stelle wie er.") war beinahe schon verblichen.

Die schönste und zugleich verdrießlichste Trouvaille war ein Blatt, auf dem ich zwei Anekdoten notiert habe, die ich im letzten Jahr in einen Artikel zum 100. Geburtstag von Ingmar Bergman unterbringen wollte. Dafür ist es nun zu spät. Das it aber kein Grund, sie Ihnen vorzuenthalten. Die eine handelt von seinem Besuch in Dick Cavetts Talkshow. Der fragt ihn, ob er je zu einem Psychoanalytiker gegangen sei. Ja, flunkert Bergman, aber nur, um sein restless leg-Syndrom behandeln zu lassen. Der Analytiker sei ein höflicher Mensch gewesen, der ihn an der Tür zu seiner Praxis mit den Worten empfing: „Ich kenne alle Ihre Filme. Ich habe Sie schon erwartet!“ Die zweite handelt von einer Begegnung mit David Lean. Der wollte von seinem Kollegen wissen, was dessen modus operandi bei Dreharbeiten sei. "Ich arbeite mit 18 Freunden", erklärte Bergman, worauf der Brite erwiderte: "Und ich mit 150 Feinden."

Meinung zum Thema

Kommentare

die Freundin wird ihr Angebot der DVDpedia noch mehrfach wiederholen! Und es nicht so, dass bei ihr wirklich Ordnung herrschen würde... Frau Kondo wäre auf verlorenem Posten! Aber wer weiss, vielleicht findet sich im Schrank des Autoren ja noch ein Cordanzug aus den 70er Jahren....

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