Die Rückeroberung des Staunens

Es hätte alles noch überwältigender sein können. Aber bevor dieser Film dem Zuschauer den Atem raubt, lässt er ihm gehörig Zeit, Luft zu holen. Er übt sich in Understatement, um das Heroische besser zur Geltung zu bringen. Einer meiner Lieblingsmomente in »First Man« (»Aufbruch zum Mond«) ist der lässige Augenblick, als zwei Astronauten entdecken, dass die Schwerkraft nun aufgehoben ist: Sie lassen einfach nur ihre Stifte schweben und lächeln über die eigene Verspieltheit im Angesicht eines epochalen Ereignisses.

Natürlich macht der Film eine große Sache aus dem Aufbruch zum Mond. Worin sonst läge seine Raison d'etre? Aber diese Unternehmung ist, wenn sie als Alltag erzählt wird, ja vielleicht auch weniger beeindruckend. Als Janet Armstrong (Claire Foy) ihrem ältesten Sohn die große Nachricht überbringt, "Your Dad is going to the moon!", erwidert er ungerührt "Ok. Can I go outside?" Geschenkt, so ein Dialog gehört zur Folklore amerikanischer Familienfilme, ein Terrain, auf dem sich »First Man« über weite Strecken bewegt. Aber das Bemerkenswerte daran ist, dass er seine Geschichte nicht als Erfüllung eines Kindheitstraums erzählt. Wenn Neil Armstrong (Ryan Gosling) hinauf zum Mond blickt, spricht daraus eine erwachsene und wehmütige, fast depressive Faszination.

Kalendarisch betrachtet, kam »First Man« fast ein Jahr zu früh heraus. Auch jetzt ist er nicht der Film der Stunde. Er erfüllt keine Repräsentationspflicht, es gebricht ihm an Triumphalismus; auch mit Pathos geizt er weitgehend. Es ist ein merkwürdiges Erlebnis, ihn in diesen Tagen wieder zu sehen: Er wirkt entrückt, beherrscht, erlaubt es sich, den Zuschauer auch einmal kalt zu lassen. Mitunter kam er mir geradezu abweisend vor. Ein-, zweimal ging mir durch den Kopf, dabei nähme er Maß an seiner Hauptfigur. Einnehmend ist der Armstrong nicht, den Gosling spielt. Der Tod seiner Tochter ist eine Hypothek, die der Film nicht ablösen kann. Leicht macht Josh Singers Drehbuch es sich nicht. Aber vielleicht habe ich nur übersehen, wie geerdet »First Man« ist. Das hätte mir spätestens in der Szene auffallen müssen, als dem NASA-Ausbilder Kyle Chandler eine Schultafel allein nicht genügt, um zu verdeutlichen, wie unvorstellbar weit die Strecke zwischen Erde und Mond ist. Großartig, wenn er am Ende sein "almost to scale" nochmal überdenkt. Diesem Film kann man dabei zuschauen, wie er seinen eigenen Horizont erweitert.

Es erstaunt mich nach wie vor, dass »First Man« der erste Film ist, den das Erzählkino der Landung auf dem Mond widmet. Vor fünf Jahren habe ich mich bereits an dieser Stelle ("Ein kleiner Schritt für das Kino" vom 16. 7. 2014) über diese klaffende Lücke gewundert. Es ist fast so, als seien mit dem Erreichen des Erdtrabanten eine Spannung, eine erzählerische Notwendigkeit erloschen. Das liegt natürlich auch daran, dass sich das Fernsehen das Recht der ersten Nacht gesichert und seither nicht mehr abgetreten hat. Die Mission von Apollo 11 ist, das haben die letzten Tage und Wochen gezeigt, wesentlich ein TV-Phänomen. Die achte Kunst hat dieses Sujet der siebten weggeschnappt und ihr nur die Brosamen eines allerdings spektakulären Dokumentarfilms überlassen. Das Science-Fiction-Kino hatte das Ereignis ohnehin längst überholt, nun auch mit glaubhafteren Visionen wie »2001« und »Lautlos im Weltraum«. Den Todesstoß fügte ihm endgültig die »Star Wars«- Saga zu, die ab 1977 Erzähltempo, Reichweite und Mythologie des Genres radikal veränderte. Der Griff nach den Sternen war jetzt ein Kinderspiel. Der Kraftakt der Mondlandung mutete nurmehr retrofuturistisch an. Wer nun in den Weltraum blickte, wollte nicht das Gestern sehen mit seiner umständlichen Technik.

Ich war also gespannt, als Barbara Schweizerhof in ihrer letztjährigen Venedig-Berichterstattung schrieb, Damien Chazelles Film würde das Staunen zurückholen. Er tut es zunächst verhalten, in dem er auf Entschleunigung setzt. Er hat Geduld mit der Rückschrittlichkeit. Über anderthalb Stunden befindet er sich im Wartestand. Das ist visuell bestrickend. Aber tendenziell fasziniert ihn vorerst eher das Scheitern (das für lange Zeit atemraubendste Tableau zeigt Armstrongs brennendes Testflugzeug mit einer mahnend emporragenden Rauchfahne) und die Abstraktion (bei einer früheren Apollo-Mission erscheint die Erde wie ein blauer Bogen aus Licht). Bevor die Astronauten zu verwegenen Abenteurern werden dürfen, sind sie erst einmal Wissenschaftler, Ingenieure oder Militärs. Der rationale, nüchterne Aspekt der bemannten Raumfahrt ist dem Film wichtig; sie bereitet den Boden für Katastrophe und Gelingen. Er nimmt sich Zeit, den Aufruhr in der US-Gesellschaft zumindest zu skizzieren, vor dessen Hintergrund die Raumfahrt wie eine frivole Eskapade wirkt. Das schließt Euphorie nicht aus: Beim ersten Verlassen der Erdatmosphäre erklingt ein Walzer, bei dem man selbstredend sofort an Kubrick denkt, aber in dem Sekundenbruchteil vor diesem "sofort" ist das berauschend.

Die verhaltene Innerlichkeit des Erzählgestus ist riskant. Sie bleibt nicht allein auf Armstrongs Perspektive begrenzt. Die Klaustrophobie der Raumkapseln wird durch subjektive Einstellungen und eine Tondramaturgie unterstrichen, die am gleichen Strang zieht. Das minutenlange Rütteln soll ein immersives Erleben verstärken, funktioniert in Serie aber nicht immer. Der Film schillert, Weshalb ist das Alles mit Handkamera gedreht? Ist das einer Hauptfigur geschuldet, die nie im Gleichgewicht ist? Oder ist es das Zittern der Erwartung. Der Start von Apollo 11 ist fast lakonisch erzählt. Auch das ist klug dosierte Überwältigung. Endgültig gepackt hat mich der Film, als sich die Raumfähre kopfüber der Mondoberfläche nähert. Das hatte ich so noch nie gesehen oder vergessen, dass es mich im Fernsehen verblüfft hatte, was ja um so mehr für den Film spricht. In diesem Augenblick erreicht er den ungekannten Horizont, dem er zwei Stunden lang entgegenfieberte.

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