Preispolitik

Der Essay, davon war zumindest dessen Erfinder Michel de Montaigne überzeugt, ist seinem Wesen nach offen. Wenn der Autor ihn beginnt, muss er noch nicht wissen, wohin es geht. Im Kino lässt sich dieses Prinzip aus praktischen und ökonomischen Gründen nur schwer umsetzen. Nur wenige haben diesen Versuch gewagt. Chris. Markers »Sans Soleil« (Unsichtbare Sonne) fällt einem da zunächst ein und auf dem Terrain des Erzählkinos Terrence Malick. Ob »Touch me not«, der überraschende Gewinner des Goldenen Bären, dazu gehört, darf man bezweifeln.

Ich vermute, dass Adina Pintilie von Anfang an ziemlich genau wusste, wohin es geht. Im Nachhinein wirkt das Langfilmdebüt der rumänischen Regisseurin (die nicht verwandt ist mit Lucian) ziemlich abgezirkelt. Aber wie alle anderen Zuschauer wusste ich nicht, was mir bevorstand. Bei der ersten Einstellung, in der eine Kamera aufgebaut wird, wäre ich fast zum Dissidenten dieses Films geworden. Filme übers Filmemachen sehe ich prinzipiell nicht gern, lasse mich aber in Ausnahmefällen überreden. Das Langfilmdebüt der rumänischen Regisseurin ist ein Hybrid aus Spiel-, Dokumentar- und Experimentalfilm. Es will Grenzen aufheben. Einmal findet eine Verwechslung zwischen Schauspieler- und Rollennamen statt, was vielleicht einfach nur ein Missgeschick ist, mich aber auch deshalb irritierte, weil ich den Darsteller Tómas Lemarquis bislang nur aus »Snowpiercer« und einer Episode der »X-Men« kannte. Die Realitäten geraten mächtig ins Schwimmen.

Meine persönlichen Schamgrenzen verletzte er nicht, im Gegensatz zu vielen Kollegen, die fluchtartig das Kino verließen. Er lässt mich nicht fassungslos zurück. Mir gefiel es, dass ich seine Figuren am Ende ein wenig anders sah als am Anfang. Auch meine Vorstellungen von Intimität, der Sehnsucht nach körperlicher Nähe und ihrer Verweigerung, wandelte sich im Verlauf dieser zwei Stunden. Das hat viel mit dem Selbstverständnis von Christian Bayerlein zu tun, der seine Muskelatrophie nicht als Leid begreift und auch nicht als Hemmnis seiner Lust. In den Haaren kann er sich nicht kratzen, aber das tut seine Lebensgefährtin für ihn. Die Selbstverständlichkeit, mit der er in einem Sexclub auftaucht, entschädigte mich für den naiven Voyeurismus, mit dem die Regisseurin dieses Spielfeld erkundet. Der "rumänische Sexfilm" (eine Zuschreibung, die nicht mir eingefallen ist, sondern das Entsetzen der FAZ ausdrückt) ist merkwürdig ortlos, es wird in ihm Englisch mit den unterschiedlichsten Akzenten gesprochen. Nie verlor ich das Gefühl, einem Laborversuch beizuwohnen, aber im Gegensatz zu vielen Kollegen hatte ich nicht den Eindruck, vom Wechselspiel zwischen Zeigen und Reflexion des Erlebten gegängelt zu werden.

Wie ein Irrlicht tauchte »Touch me not« am Ende des Wettbewerbs auf. Mit dem, wofür das rumänische Kino seit gut einem Jahrzehnt auf Festivals gefeiert wird, hat er nichts gemein. In Berlin war er ein Solitär, was zweifellos auch in Cannes und Venedig der Fall gewesen wäre. Der Hauptpreis des Festivals scheint aus dem Nichts zu kommen, der Film lief unter dem Radar der Zuschauer und Kritiker. Vielleicht war die Jury-Entscheidung nur eine leere Provokation. Mit ihr müssen wir nun leben, werden sie aber möglicherweise bald vergessen haben. Der Festivaldirektor sah bei der Preisverleihung alles andere als glücklich aus: Auch er hätte wohl nicht damit gerechnet, dass das Publikum der Abschlussgala ausgerechnet diesen Preisträger über sich ergehen lassen musste. Theoretisch müsste er sich darüber freuen, auch wenn »Touch me not« ein bizarrer Beitrag zur #MeToo-Debatte ist, an der sich die sich die Berlinale mit euphorischem Opportunismus beteiligte. Auf jeden Fall besser als »Damsel«, einer der tiefsten Abstürze im Programm, den Dieter Kosslick im Vorfeld noch als feministischen Western angepriesen hatte. (War ihm entgangen, dass in der ersten Stunde als einzige Frauenfigur lediglich kurz eine Saloon-Hure im Hintergrund auftaucht?)

Aber ohnehin konnte sich die Berlinale rühmen, die Zeichen der Zeit verstanden zu haben. Sieben der 12 Hauptpreise gingen an Frauen. Das waren zumeist begrüßenswerte Entscheidungen. Dass für »Dovlatov« die Kostüm- und Szenenbildnerin ausgezeichnet wurde, erscheint mir hingegen als eine unberatene Lösung.. Die magische, auch beklemmende Atmosphäre entsteht hier eher aus dem Licht, dem Petersburger Nebel und dem wehmütigen Timbre der Darsteller. Als Malgorzata Szumowska, die das Festival seit Jahren systematisch "aufbaut" (erfolgreicher als ihre italienische Kollegin und eben auch Wettbewerbsrivalin Laura Bispuri), für »Twarz« den Spezialpreis der Jury entgegennahm, frohlockte sie: "I am happy to be a female director!" Klang aus ihrem Jubel eventuell eine sachte Furcht, die Auszeichnung beruhe eher auf politischen als künstlerischen Erwägungen? Gleichviel, 7 aus 12, das muss der Berlinale die Konkurrenz in Cannes und Venedig erst einmal nachmachen!

Reicht das, um den Klassenerhalt als A-Festival zu verteidigen? Zwei Tage danach, wo die Erleichterung groß ist, dass alles vorbei ist, mag ich noch nicht zur Tagesordnung übergehen. Mein Aufruhr hat sich noch nicht gelegt. Die Vergabe des Hauptpreises war eine regelrechte Dekonstruktion des Wettbewerbsprogramms und nicht die einzige Ohrfeige, die die Jury verteilte. Mut und Mutwillen waren hier nicht leicht zu unterscheiden. Aus ihren Entscheidungen sprach jedenfalls keine Genugtuung über eine ästhetische Erneuerung, sondern die Forderung, diese demnächst schleunigst zu liefern. Dennoch war der Wettbewerb mehr als ein Wartesaal. Die Juroren hätten durchaus größeren Spielraum gehabt – die Filme von Christian Petzold, Lav Diaz und Thomas Stuber (nach meiner Ansicht auch Cédric Kahn) etwa boten sich für diverse Preise an. Mit den Auszeichnungen immerhin für »Las Herederas« (Alfred-Bauer- und Darstellerinnenpreis) bewiesen Tykwer & Co Augenmaß. Den berückend unaufgeregten Film aus Paraguay zeichnete auch die internationale Kritikerjury aus. Unser hiesiger Kritikerverband kürte, das geht im Festivaltrubel immer unter, übrigens »Western« von Valeska Grisebach zum besten deutschen Film des vergangenen Jahres. Es gibt noch Gerechtigkeit in Berlin.

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