Ambulante Nachbarschaft

In gewissen Pariser Kinos finde ich mich gern schon eine Weile vor Filmbeginn ein. Ich tue es aus gewissermaßen doppelter Schaulust. Das gilt nicht für diejenigen, in denen das aktuelle Programm läuft. Aber in den Sälen im Quartier Latin und in St. Germain, die fast ausschließlich Reprisen zeigen, studiere ich gern das Publikum.

Mich interessiert einfach, was sie in einen alten Film geführt hat. Da dies nicht jedem anzusehen ist, hilft es enorm, die Gespräche zu belauschen. Es ist übrigens auch nie auszuschließen, dass sich in den Sitzreihen ein heimischer Kollege verbirgt, den ich nicht von Ansehen, wohl aber von seinen Artikeln oder Büchern her kenne. Ganz selten ist auch mal eine Berühmtheit darunter. Claudia Cardinale etwa ist gelegentlich in Pariser Kinos zu sehen. Böse Zungen behaupten: aber nur, wenn einer ihrer eigenen Filme läuft, was ich jedoch dementieren darf: Einmal saß sie in meiner Reihe, als im Champo »Der eiskalte Engel« lief.

Aber gleichviel, ob die Kinogänger nun tatsächlich etwas mit dem Filmgeschäft zu tun haben, stets befindet man sich im Kreis von Eingeweihten. Die Besucher der Wiederaufführungskinos gehen mit einer liebenswürdigen Voreingenommenheit hinein. Sie haben meist eine genaue Vorstellung von dem, was sie erwartet und bringen oft einen reichen Erfahrungsschatz mit. Bei einem Festival wie »Toute la mémoire du monde« verdichtet sich dieser Eindruck noch. Natürlich war der Prominentenfaktor höher (Claire Denis sah sich einen Film aus der Carte blanche von Wim Wenders an, dessen Assistentin sie einmal war), auch einige Kritiker wurden gesichtet (»Schau' mal, der Typ mit der braunen Ledertasche, das ist Jacques Lourcelles«, klärte mich mein Pariser Gastgeber auf, um dann verwundert hinzuzufügen: »Sonst sieht er sich nie Stummfilme an.«). Mich aber interessierten mehr die Zivilisten, die aus Neigung und Interesse kamen; darunter vor allem die Wiederholungstäter

In dem Kino, das die Reihe mit mexikanischen Films noir zeigte, fiel mir sofort und dann wiederholt ein eleganter älterer Herr auf, der einen beigefarbenen Kamelhaarmantel und einen hellbraunem Filzhut trug, welcher sein scharf geschnittenes Profil hervorragend unterstrich. Seine Erscheinung hätte gut in ein französisches Melo oder einen Gangsterfilm der 50er Jahre gepasst. Dort wäre er als Impresario oder Gönner einer blutjungen Femme fatale ideal besetzt gewesen. Seine Manieren waren übrigens vortrefflich. Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, sich in der Schlange vorzudrängeln. Vielmehr bestand er mehrfach darauf, dass ich vor ihm an der Reihe sei.

Im Kino selbst nahm ich dann meinen Stammplatz ein, den ich mit Bedacht gewählt hatte, weil er in der Reihe hinter einem Gespann lag, dessen Fachsimpeleien ich jedes Mal neugierig lauschte. Sie war eine zierliche Dame um die Sechzig, von gepflegtem Äußeren und bemerkenswerter Geduld. Er schien etwas jünger zu sein und entschieden bohèmehafter. Sie waren kein Paar, womöglich nicht einmal Freunde. Sie trafen sich wahrscheinlich einfach nur regelmäßig und ergänzten sich von ihrem Temperament her ideal. Sobald sie Platz genommen hatte, brach ein Schwall der Gelehrsamkeit aus ihm hervor, den sie immer nur kurz, dann aber kenntnisreich unterbrach. Die Themen, die sie beschäftigten, reichten von den Beziehungen des französischen und britischen Adels im 18. Jahrhundert über André Gides Tagebücher bis zu den Stars des mexikanischen Kinos. Selbstredend schwärmte er für Maria Félix, während sie Dolores del Rio bevorzugte.

Jüngere Semester waren unter den Stammgästen eher selten zu finden. Einmal wunderte ich mich, dass der etwa 25jähriger Bursche neben mir sich tatsächlich für »La Terre qui meurt« interessierte, über den ich vor zwei Tagen schrieb. Er war hyperaktiv, suchte verzweifelt nach der richtigen Sitzhaltung und bog sich dabei wie ein Schlangenmensch. Trotz dieser Unruhe hielt er den Film über durch. Am Tag darauf sah ich in ihn in einem Cinerama-Film, dessen Länge ihn dann aber doch abschreckte und zum frühzeitigen Aufbruch animierte. »La femme revée« wiederum sah ich in Gesellschaft eines etwas verschubst wirkenden, leutseligen jungen Mannes, der mir von seiner Enttäuschung über einen frühen Chabrol-Film berichtete, den er am Vortag gesehen hatte. Das Drehbuch sei leider extrem vorhersehbar gewesen und die angekündigte Stéphane Audran leider nicht gekommen. Er legte ohnehin viel Wert auf gute Drehbücher, weshalb ihm die Cinerama-Filme überhaupt nichts brachten: Lauter Landschaftsaufnahmen, keine Geschichten!

In der Metro begegneten wir uns wenige Minuten danach wieder. Er war erstaunt, dass »Une fremme revée« seinerzeit trotz seiner prächtigen Ausstattung überhaupt kein Erfolg gewesen sei und pflichtete mir vergnügt bei, als ich bemerkte, Charles Vanel habe 1928 schon genau so ausgesehen wie später in den 60er und 70er Jahren. Ihm war schon im Kino der Akzent aufgefallen, mit dem ich Französisch sprach, er hatte mich zunächst für einen Amerikaner gehalten, was ich ihm allerdings nicht übel nahm. Sodann stellte er sich vor: Sein Name sei Bruno, er lebe in der Banlieue, wo er in einem Baumarkt arbeite. Den weiten Weg in die Cinémathèque nehme er aber nun wieder gern in Kauf, seit er eine der sündhaft billigen Jahreskarten erworben hatte. Ein Zeit lang, berichtete er mir, habe er nur daheim Filme geschaut, weil er einige persönliche Probleme gehabt habe. Es ist immer ratsam, auf einen solchen Köder nicht anzubeißen, was unsere Bereitschaft, einander bei einer der nächsten Vorführungen wieder zu treffen, aber nicht schmälerte.

Er suchte cinéphilen Anschluss und fand ihn auch. Am nächsten Tag erklärte er mir und anderen Zuschauer, dass man heute erst für die Karte und dann in der endgültigen Schlange für den mexikanischen Krimi anstehen musste. Das veränderte Prozedere des Kinobesuchs beschäftigte ihn sichtlich, er fühlte sich verantwortlich, dass jeder problemlos in die Vorführung kam. Ihm war schon aufgefallen, dass bei vielen Filmen der Reihe Roberto Gavaldón die Regie führte und wollte mehr über ihn wissen. Meine Kenntnisse waren begrenzt, stellten ihn aber zufrieden. Er fand es überdies erstaunlich, dass ein Kanadier (Alex Phillips) so oft als Kameramann in den Vorspannen genannt wurde. Dann freute er sich auf »The Living Idol«, ein obskures Spätwerk von Albert Lewin, dessen »Pandora und der fliegende Holländer« er natürlich kannte. Ich glaube, er hatte mehr Freude an dieser wiederum in Mexiko spielenden Bizarrerie, wo Liliane Montevecchi die Wiedergängerin einer Maya-Prinzessin spielt und ein Jaguar sich als die Reinkarnation einer aztekischen Gottheit entpuppt.

Am letzten Tag sahen wir uns in der Fondation Seydoux-Pathè wieder, wo eine Reihe über London im Stummfilm lief. Gemeinsam mit meinem Gastgeber Binh, der seit Jahren an einem Lexikon über das britische Kino arbeitet (die Deadline, darüber spricht er nicht so gern, ist eigentlich im vergangenen Sommer abgelaufen), sah ich mir »Shooting Stars« von Anthony Asquith an. Nach der Vorstellung kam Bruno, der gerade mit einem anderen Kinogänger diskutierte, begeistert auf uns zu: »Welche Modernität!« Binh wollte wissen, wer denn mein neuer Freund sei – eventuell ein Kollege, den er nicht kenne? Nein, erwiderte ich, er ist in einem Baumarkt beschäftigt und kennt sich im Kino gut aus.

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