Vor dem Kater

»Nichts zu verschenken« (2016). © Wild Bunch

Ob er stolz ist, Franzose zu sein, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Dieses Bekenntnis hört man in letzter Zeit ohnehin meist aus dem falschen Lager. Dass Dany Boon stolz ist, aus dem Norden zu stammen, muss hingegen niemanden überraschen, der »Willkommen bei den Sch'tis« gesehen hat.

Das ist kein naiver, sondern überlegter Lokalpatriotismus, wie ich vor einiger Zeit während eines Interviews feststellen durfte. Boon ist regionalstolz auch aus politischer Überzeugung. Anlass der Begegnung war zwar seine neue Komödie »Nichts zu verschenken«, die vor ein paar Tagen bei uns startete. Aber immer wieder brachte er das Gespräch auf die »Sch'tis« zurück. »Als der Film herauskam, traf er einen Nerv«, erklärte er mir dessen durchschlagenden Erfolg. »Frankreich war in dem fremdenfeindlichen Klima gefangen, das Sarkozy schon vor seiner Präsidentschaft geschürt hat. Außerdem demonstrierte er diese Bling-Bling-Allüren. Mein Film aber handelte von den wahren Werten, der Freundschaft, der Bereitschaft, sich anderen zuzuwenden.«

Das war mir ein wenig zu blumig, weshalb er zu einer ausführlicheren Eloge auf seine Heimat ansetzte. »Ich schätze die Großzügigkeit der Menschen dort«, fuhr er fort. »Schauen Sie sich nur an, wie bereitwillig sie eine Komödie aufführen und sich als Karikatur ihrer selbst präsentieren, um die Ehe des aus dem Süden zwangsversetzten Kad Merad zu retten! Nein, meine Region hat mich schon immer fasziniert. Sie hat meinen Vater mit offenen Armen empfangen, als er aus Algerien einwanderte. Und obwohl der Norden eine eigene Kultur, eine eigene Sprache – das Sch'ti ist kein Dialekt, es ist eine eigene Sprache!- besitzt, ist er praktisch die einzige Region, die nie nach Unabhängigkeit strebte. Ganz anders als die Korsen, die Bretonen oder die Basken. Der Norden besitzt eine kulturelle Identität, die in der Offenheit besteht.«

Sein Wort in des Wählers Ohren! Allerdings ist der Norden nicht ganz mehr so strukturschwach, wie er es nach dem Niedergang der Schwerindustrie war. Neben der Ile-de-France ist es die Region, die momentan die meisten Investoren aus dem Ausland anzieht. Eigentlich müssten sich die Bewohner also nicht unbedingt als Globalisierungsverlierer fühlen. Dennoch hat der Front National, dessen Jagdrevier ursprünglich im Süden lag, dort großen Zulauf. Das bekam gerade der Gründer des Konserven-Imperiums Bonduelle zu spüren, der sich um den Ruf seiner Heimat im Falle eines Wahlsiegs von Marine Le Pen sorgt. Seitdem ihre Anhänger in den sozialen Netzwerken zu einem Boykott seines famosen Dosengemüses aufrufen, verstummt der Patron, der zuvor noch Zuwanderer als großen Segen für den Industriestandort pries.

Die Rechtspopulistin kann mittlerweile auf eine Zustimmung hoffen, die beängstigende Kreise zieht. Inzwischen profitiert sie von den Verfallserscheinungen der etablierten Parteien im gleichen Maße, wie es der bisherige Favorit Emmanuel Macron tut. Der Vorsprung, den der unabhängige, hoffentlich nicht nur wirtschaftsliberal Zentrumskandidat ihr gegenüber bisher hatte, ist empfindlich geschrumpft. In den meisten Prognosen liegen sie gleichauf. Seit sich Marine rabiat von ihrem Vater, dem Parteigründer Jean-Marie distanziert hat, bietet sie der Wählerschaft andere Verlockungen. Der Vater, dessen Weltbild entscheidend von seiner Zeit als Folterer während des Algerien-Krieges geprägt wurde, zielte noch auf den ganz rechten Rand, der vor allem in der Provinz zu verorten war. Marine hingegen macht auch den Wählern in den Randgebieten der Großstädte ein Angebot. Sie profitiert schamlos von der Identitätskrise eines Frankreich, das wirtschaftlich ins Hintertreffen gerät und auch in der Europäischen Gemeinschaft eine Nebenrolle zu spielen droht. Momentan bedient sie allerdings auch wieder die Ressentiments der Stammwählerschaft. Gerade hat sie die Vichy-Regierung freigesprochen von einer Beteiligung an der Judenverfolgung während der deutschen Besatzung. Mit solchen historischen Verfälschungen tritt sie in die Fußstapfen des Vaters. Dieser Tage werden in Frankreich auch wieder Flüchtlingslager in Brand gesteckt.

Der Ausgang des ersten Wahlgangs am 23. April scheint sicher, auch wenn der Anteil der Unentschiedenen derzeit mit 40 Prozent veranschlagt wird. Da wird es höchste Zeit, dass sich die Künstler mobilisieren. Der doppelzüngige Scherz des Schauspielers und Regisseurs Guillaume Canet, der auf Facebook verkündete »Je vote blanc« (Ich enthalte mich der Stimme) und sich mit einem Foto seines Kollegen Michel Blanc präsentierte, kann bitterer Ernst werden. Andere sind da entschiedener. Sein ehemaliger Leinwandpartner Francois Berléand sprach sich für Macron aus. Juliette Binoche und Valérie Donzelli werden für den Linken Benoit Hamom stimmen; Donzelli hat gar einen reichlich holprigen Werbespot für dessen Kampagne gedreht.

Anfang April erschien in der Tageszeitung »Libération« der »Appell der 100«, die mit klaren Worten vor einer Präsidentin Marine Le Pen warnten. Der Aufruf ist Ausdruck der Sorge vor einer kulturfeindlichen Politik und einem gesellschaftlichen Klima, in der Zensur und Selbstzensur ins Kraut schießen können. Diese Sorge ist berechtigt, denn in vielen Wahlkreisen, die der FN in der Vergangenheit gewann, wurden Subventionen für kulturelle Einrichtungen so drastisch gekürzt, das einige aufgeben mussten. Unterzeichnet haben den Appell Künstler unterschiedlichster Couleur, darunter die Theaterregisseure Stéphane Braunschweig und Olivier Py, die Schriftstellerin Marie Darrieussecq und der Jazzsaxofonist Archie Shepp. Das Kino ist auf der Liste der 100 natürlich gut vertreten, unter anderem erheben die Schauspielerinnen Jeanne Moreau, Catherine Frot, Léa Seydoux und Valeria Bruni-Tedeschi ihre Stimme. Regisseure finden sich hingegen erstaunlich wenige, auf den ersten Blick entdeckte ich nur Amos Gitai und die Brüder Dardenne. Traditionell sind es ja doch vor allem französische Filmemacher, die sich bei solchen Gelegenheiten staatsbürgerlich engagieren. Haben Sie nun weitgehend resigniert?

Obwohl die Gemengelage sich heute differenziert hat, erinnert die Situation doch stark an den April 2002, als Lionel Jospin im ersten Urnengang abgeschlagen war und den Franzosen im zweiten nur die Wahl zwischen Jacques Chirac und Jean-Marie Le Pen blieb. Das war ein einzigartiger historischer Einschnitt, den auch das Kino nur schlecht verdaut hat. Erinnern Sie sich noch an das Trauma der furchtlosen Linksaktivistin (Sara Forestier) in der Komödie »Die Namen der Leute«, die voller Scham und Unglauben gestehen musste, für Chirac gestimmt zu haben? Da bot auch der hübsche Gastauftritt Jospins keinen Trost mehr.

Fortsetzung folgt.

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