Noch immer keins

Allerdings blieb die europäische, vor allem frankobelgische Comic-Tradition nicht ohne Nachhall im Kino. Elio Petris »Das zehnte Opfer« (der Film, in dem Ursula Andress den schießenden BH trägt - von ihm ist man auch schnell bei »Austin Powers«) ist imprägniert von ihrem satirischen Furor. »Tintin« »Tim und Struppi« stand Pate für Philippe de Brocas muntere Eskapaden mit Belmondo, für »Abenteuer in Rio« und »Die tollen Abenteuer des Monsieur L.« Der bekennende Hergé-Fan Spielberg hat sich bei ihm eine Menge für Indiana Jones abgeschaut. (Sein offizieller »Tintin«-Film ist sympathisch rasant.) Die ausschweifende Phantasie von Mezières und Christin hinterließ deutliche Spuren in »Star Wars« (ohnehin ein enorm voraussetzungsreicher Film) und »Blade Runner«; der Zeichner Mezières wirkte überdies federführend an Bessons »Das Fünfte Element« mit.

Faszinierend ist aber vor allem, wie filmisch ihre Ästhetik ansatzweise ist. Die establishing shots in Girauds „Blueberry“ sind grandios. Hermann setzt in »Comanche« und »Andy Morgan« Totalen eher als rhythmisches Element ein, die das kleinteilige, drangvoll enge Seitenlayout unversehens sprengen. Hugo Pratt simuliert am Anfang einer »Corto Maltese«-Geschichte eine Kamera-Rückfahrt, die mit der Nahaufnahme des Felles eines Zebras beginnt und sich zu der Totalen der Herde in der afrikanischen Steppe erweitert.

Auch das Verhältnis von Szenaristen und Zeichnern steckt voller Unwägbarkeiten, die einem Filmkritiker vertraut sind. Die Frage nach der Autorenschaft besitzt eine ähnliche Dynamik wie im Kino. Da schlägt das Pendel der Wahrnehmung ja meist zugunsten der Regisseure aus. Im Comic ist das oft ebenso. Diese enge Verbindung zeigt sich auch darin, dass einige Regisseure – Federico Fellini, Ettore Scola, Patrice Leconte u. a. - vorher Zeichner waren. Aus dem Mund von Herman Huppen hörte ich einmal ein wunderbare Anekdote. Er berichtete, wie sehr seine Arbeit als Zeichner von den Textlieferungen abhinge. Bei einem Genie wie Jean Giraud sei das ganz anders gewesen: Der zeichnete Seite um Seite weiter und wunderte sich, dass der Szenarist nicht nachkam.

Alles in allem hätte diese europäische Comic-Kultur eigentlich eine Steilvorlage für das Kino liefern müssen. Das reagierte aber meist, und da fängt das Verhängnis an, mit einiger Verzögerung. Eine relativ kontinuierliche Zuschauerbindung stellte sich nur bei kindgerecht satirischen Stoffen her. So funktioniert »Asterix« heute auch als Realfilm prächtig; kommerziell längst sogar zuverlässiger als animierte Adaptionen. (Lucky Luke hingegen mag man sich nicht rasend gern in Gestalt von Terence Hill oder Jean Dujardin vorstellen.) In den letzten Jahren tauchen im französischen Kino reihenweise ulkige Figuren wieder auf, die man diesseits des Rheins schon fast vergessen hat: Iszogud (passte gut in die Sarkozy-Äran), Marsupilami, Titeuf etc.; Peyos »Die Schlümpfe« wiederum hat sich ein amerikanischer Major unter den Nagel gerissen.

Bei den "erwachsenen" Comics fällt die Bilanz anders aus. Es gibt zwar Verfilmungen von »Michel Vaillant«, »Tanguy et Laverdure« und »Corto Maltese« aus jüngerer Zeit, aber ihre Ausstrahlung reichte kaum über den französischen Markt hinaus. Selbst dort waren sie keine hinreichenden Erfolge, die in Serie hätten gehen können. Ich vermute, hier ist der Zeitfaktor entscheidend. Nach Jahrzehnte langem Warten waren diese Mythen verblasst und die Erwartungen verschlissen. Die Chance der Unmittelbarkeit war ausgeschlagen worden. Roger Vadims »Barbarella« (um die sich immer wieder Remake-Gerüchte ranken) und „Gefahr: Diabolik“ waren nicht vorläufiger, als es Spätlichter wie „Michel Vaillant“ sind. Deren Aura war einfach überreif. Vielleicht mussten sie nicht mal mehr die Bedrohung fürchten, die »Batman«-Regisseur Tim Burton für Comic-Verfilmungen namhaft machte: "Das Problem ist der Fan."

Wie verheerend sich die Zeit dazwischen schieben kann, führt Jan Kounens »Blueberry« vor Augen. Der Szenarist der Serie, Jean-Michel Charlier, hatte schon lange davon geträumt, seinen Helden auf der Leinwand zu sehen. Sein Partner Jean Giraud erschloss sich derweil unter dem Pseudonym Moebius erfolgreich die Sphäre der philosophischen Fantasy. Ich fürchte, das hatte Kounen im Hinterkopf, als er und Vincent Cassel sich nach ihrem Erfolg mit dem rotzigen »Doberman« des Mythos' annahmen. Ihre Interpretation ist auf ziemlich fahrlässige Weise frei. Sie will um jeden Preis gegenwärtig sein, aber dieser Blueberry hat zu viele Filter durchlaufen. Auf den ganzen schamanistischen Firlefanz hätte man als nostalgischer Zuschauer gern verzichtet. Obwohl natürlich nicht auszuschließen ist, dass schon in den 60ern ein »Blueberry« hätte entstehen können, dessen Regisseur Kubricks »2001« zu oft gesehen hat.

Es wäre natürlich denkbar, dass einige dieser Mythen nie so dicht und ausbaufähig waren wie die aus dem Hause Marvel oder DC. Riesenerfolge wurden deren Kinoadaptionen übrigens ja auch erst mit großer Verzögerung: nach punktuellem Aufblühen in den späten 70ern (Superman) und 80er (Batman) stoßen sie erst mit Beginn dieses Jahrtausends wirklich dauerhaft in die Blockbuster-Sphäre vor. Sie sind keine nostalgischen Phänomene, sondern präzise auf den Geschmack des Teenagerpublikums abgestimmt. Der Fan ist in den USA gewiss ein wichtigerer Faktor als in Frankreich, wo der Comic schließlich zur neunten Kunst erklärt wurde. Als »Valérian et Laureline« 1967 zum ersten Mal erschienen, fand im Louvre die erste Ausstellung zum Comic statt. An Selbstbewusstsein fehlt es der frankobelgischen Comic-Kultur nicht. Sie ist gewissermaßen staatstragend. Das Zögern des Kinos ist vielleicht sogar gescheit. Das Bündnis, das die Leser mit ihr eingegangen sind, ist womöglich schon eng genug. Sie brauchen nicht unbedingt andere Bilder als die großartigen, die sie in den Alben finden.

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