Der Sommer, in dem sich alles änderte

»A Touch of Zen« (1971)

In diesem Sommer darf man sich beinahe wie in Frankreich oder Großbritannien fühlen. Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht eine Wiederaufführung startet. Den Anfang machten »Belle de Jour« und »La Boum«. Gerade kam »Die Reifeprüfung« restauriert neu heraus, in wenigen Tagen wird Luc Bessons »Das fünfte Element« nach 20 Jahren wieder neu gestartet. Ob sich der Verleih von Bessons aktuellem SF-Film »Valerian« über diese Vergleichsmöglichkeit freuen wird, soll noch dahin gestellt sein.

Erfreulich ist jedenfalls die Initiative von Rapid Eye Movies, zwei der besten Kampfkunstfilme von King Hu (was so viel heißt wie: zwei der besten Kampfkunstfilme überhaupt) herauszubringen, »A Touch of Zen« und »Dragon Inn«.

Die Frage, ob die Reprisen-Kultur hier zu Lande eine solide kommerzielle Legitimation besitzt, hat mich an dieser Stelle schon häufiger beschäftigt (etwa im Eintrag »Ohne Verfallsdatum« vom Dezember 2016). Es wird sich zeigen, ob sie nur eine Sommerlaune ist oder sich zu einem nachhaltigen Trend entwickelt. Auch in Zeiten, wo das Angebot der Home-Entertainment-Industrie unerschöpflich scheint, ist dergleichen nicht obsolet. Mithin stimme ich dem zu, was Daniela Sannwald vor kurzem im »Tagesspiegel« über das Phänomen schrieb: »Wer begreifen will, was die Filme bedeutet haben, bevor sie Klassiker wurden, warum sie Zuschauer begeistert, schockiert, gerührt oder zur Hysterie getrieben haben, der sollte sich in die Black Box des Kinos begeben. Filme an dem Ort anschauen, für den sie gedacht waren – es kann gar nicht genug Wiederaufführungen geben. Für ein jüngeres Publikum, das die Filme noch nicht kennt, und für die anderen, die sich beim Wiedersehen auch ein wenig selbst wiederentdecken können.«

Die von der Kritik am stärksten beachteten Reprisen, »Belle de Jour« und »Die Reifeprüfung«, werden 50 Jahre alt. Die Frage, ob sie sich gut gehalten haben, beschäftigt mich heute aber nicht. (Obwohl sie natürlich interessant ist: Im Gegensatz zu dem gelassenen Subversiven Luis Bunuel gab sich Mike Nichols ja alle erdenkliche Mühe, ästhetisch auf der Höhe seiner Zeit zu sein.) Vielmehr fasziniert mich, wie reich das Jahr 1967 an epochalen Ereignissen und Umbrüchen war. Der »Summer of Love« fand statt; in Großbritannien wurde ein Gesetz verabschiedet, das der Strafverfolgung von Homosexuellen ein Ende setzte. Die Beatles stellten ihr »Sergeant Pepper«-Album fertig (vor ein paar Tagen erhielt ich die Einladung zur Pressevorführung von »It was fifty years ago today«, der davon erzählt). In den USA schickte sich erstmals ein schwarzer Schauspieler an, den Spitzenplatz unter den Kassenmagneten einzunehmen. Den Auslands-Oscar gewann ein Film von Jiri Menzel, der leise den Prager Frühling ankündigte. Einige meiner Lieblingsfilme kamen in dem Jahr heraus, »Die Mädchen von Rochefort« von Jacques Demy, Melvilles »Der eiskalte Engel«, Hawks' »El Dorado« und Richard Brooks' Adaption von »Kaltblütig« (wo wir gerade bei Truman Capote sind, veranstaltete der 1967 nicht auch seine legendäre Schwarzweiß-Party?). Und just an diesem Wochenende vor fünf Jahrzehnten lief in den US-Kinos »Bonnie and Clyde« an. Das war der Auftakt zum New Hollywood, das wahrscheinlich den größten kulturellen Einschnitt dieses annus mirabilis Jahres markiert.

Die 60er waren ein zerrissenes Jahrzehnt. Das alte System funktionierte nur noch träge und sporadisch. Nach dem Erfolg von »My Fair Lady«, »Mary Poppins« und »The Sound of Music« entstanden eine Menge Musicals, die sich als kapitale Flops erwiesen. Auch in anderen Genres erlitten die Studios Schiffbruch mit scherfälligen Großproduktionen. Die meisten Oscars gewann hingegen ein kleines, agileres Studio wie United Artists (das Miramax oder die Weinstein Company der Epoche). 1967 ist eine spannungsvolle Zwischenzeit. Gerade war noch der treuherzige „The Sound of Music“ der erfolgreichste Film aller Zeit und schon sah es so aus, als würde er von der »Reifeprüfung« entthront. Leones »Dollar«-Trilogie kam als geballte Ladung auf den US-Markt und Clint Eastwood löste praktisch über Nacht Julie Andrews als zugkräftigster Star ab. Damals allerdings konnten sich die Filme noch Zeit nehmen, zu Kassenphänomenen zu werden. Das Startwochenende entschied noch nicht über Gedeih und Verderb. Es gibt ein tolles Foto, das Dustin Hoffman zeigt, wie er einige Tage nach der Premiere von »Die Reifeprüfung« noch seinen wöchentlichen Arbeitslosenscheck abholt. Auch »Bonnie and Clyde« nahm erst nach Monaten so richtig Fahrt auf.

1966 hatte »Time« die Generation unter 25 zum »Mann des Jahres« gekürt. Nichols' Film profitierte vom demoskopischen Wandel, wurde aber auch zu einem gesellschaftlichen Phänomen, weil er beide Seiten der Generationskluft brennend interessierte. Das Kino musste Bilder finden, für das, was in der Luft lag, für den Vietnamkrieg, die Studentenproteste, die Bürgerrechtsbewegung. Sidney Poitier avancierte zu deren vergleichsweise konservativem Aushängeschild. Seine Pionierleistung ist enorm. Er war vorerst eine Figur der Versöhnung, deren Sexappeal noch relativ unverfänglich. Das half, die Dinge in Bewegung zu bringen. Selbst in den Südstaaten mussten die Kinobesitzer dem Drängen seiner Fans nachgeben. Und nicht nur das schwarze Publikum in Harlem applaudierte, als der ehemalige Runningback Jim Brown in »Das dreckige Dutzend« einem Haufen übler Nazis den Garaus machte.

Das Neue konnte sich Bahn brechen, weil es in ein Klima der Verunsicherung traf. Die Zensur vermochte ihm nur schwer Einhalt gebieten. Der alte Production Code war nicht mehr haltbar. Das System unterschiedlicher Altersfreigaben, das ihn ersetzte, reagierte erst einmal ratlos auf die unverhofften Anfechtungen durch Gewalt, Nacktheit, Obszönität. Der propere Konservative Jack Valenti leistete vorerst schwachen Widerstand und ließ lauter Dämme brechen.

Die Freiheit, die das US-Kino auf einmal in sich spürte, war auch der Empfänglichkeit für ferne Einflüsse geschuldet. Die Begeisterung für dessen neue Wellen war bald keine Randerscheinung mehr, die sich auf Filmkunstkinos an der Ostküste oder in Universitätsstädten beschränkte. Das sensationelle Einspiel von Antonionis »Blow Up« brachte Hollywood in Zugzwang. Die Schnittstellen mit dem europäischen Kino wurden größer. Der Großteil der Oscar-Nominierungen ging seinerzeit an britische Schauspieler und Schauspielerinnen. Robert Benton und David Newman boten ihr »Bonnie and Clyde«-Drehbuch zuerst Truffaut und Godard an (auch Philippe de Broca wurde zeitweilig ins Spiel gebracht), was man dem späteren Film ansieht. Der Theaterregisseur Mike Nichols studierte Dutzende europäischer Autorenfilme (sein Favorit war Fellinis »Achteinhalb«), um zu lernen, wie man die Kamera bewegt und wo man schneidet. Nicht alle, aber die meisten Lektionen hat er gut verdaut.

Es gibt zwei aufschlussreiche Bücher, in denen man die Umwälzungen dieser Epoche gleichsam in Nahaufnahme betrachten kann. John Gregory Dunne verbrachte ein Jahr als eingebetteter Reporter bei 20th Century Fox. »The Studio« gewährt faszinierende Einblicke in den Produktionsbetrieb; insbesondere verfolgt er die Entstehung von einem guten Halbdutzend Filmen, darunter »Planet der Affen« und »Der Frauenmörder von Boston«. Antiquarisch ist es noch zu bekommen. Ich habe es in den 80ern gelesen und bin heute vor allem erstaunt darüber, wie klug Dunnes Intuition war. Die Veränderungen zeichneten sich noch nicht wirklich ab, als er die Reportage begann, aber er muss gespürt haben, dass sie in der Luft lagen. Ein famoser Zeitgenosse. »Pictures at a Revolution« von Mark Harris hingegen ist erst vor zwei, drei Jahren erschienen und kann mit wissenssatter Nachsicht auf die Epoche zurückblicken. Auch Harris schildert akribisch die Entstehung mehrerer Filme, genauer gesagt, der fünf Kandidaten in der Königsdisziplin der Oscars, des Besten Films. Diese Konzentration ist ein ertragreicher Ansatz - schon in der Auswahl der Nominierten zeigen sich Ungleichzeitigkeiten und Widersprüche der Zeit: Man glaubt es kaum, aber »Dr. Doolittle« war auch darunter -, den der Autor immer mehr erweitert. Den prägnantesten Satz über dieses Zeitklima habe ich freilich einmal irgendwo anders gelesen. Aber er bestätigt den Befund der zwei empfehlenswerten Bücher: »Different became a genre.«

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