Bonjour Cinéma

 »Germinal« (1993)

Als ich vor einiger Zeit Albert Capellanis 1913 entstandenen »Germinal« sah, kam mir in den Sinn, dass der Fortschritt zwar schön und gut, aber eigentlich ein bisschen überflüssig ist. Die erste abendfüllende Verfilmung (zuvor gab es zwei kurze) des Romans von Émile Zola erschien mir höchst zufriedenstellend; nicht zuletzt, da die Restaurierung der Cinémathèque francaise und der Pathé-Stiftung dem rund 100 Jahre alten Film seine einstige Schönheit prächtig zurückerstattet.

Das Sozialmelo über Grubenarbeiter in Nordfrankreich kommt, wenn ich mich recht erinnere, ganz ohne Großaufnahmen aus, obwohl diese zu diesem Zeitpunkt schon Eingang in die Syntax des Mediums gefunden hatten. An Nachdruck fehlt es ihm dennoch nicht. Der Erzählgestus ist tableauhaft, die Kamera bewegt sich nur selten – ich glaube, die ersten Schwenks und Fahrten setzen mit dem Ausbruch des Bergarbeiterstreiks ein, was eine schlüssige Entscheidung ist. Dabei ist »Germinal« kein asketischer Film. Die atemraubende Verwendung von Originalschauplätzen macht ihn ungemein realitäts- und welthaltig. Capellani war ein Meister des filmischen Wimmelbildes, aber auch seine Aufnahmen von kleineren Menschengruppen sind ungeheuer lebhaft.

Natürlich profitierte der Regisseur von den Fortschritten, die die Filmsprache 1913 gemacht hatte. Dass er ihr Potenzial nur zögernd ausschöpfte, war eine ästhetische Wahl. Wie bewusst Capellani sie traf, wird schon in den Einstellungen im Prolog deutlich, in denen Arbeiter beim Verlassen ihrer Fabrik zu sehen sind. Gewiss zitiert er damit den ersten Film der Brüder Lumière, der 18 Jahre früher entstand. Er filmt das Fabriktor aus einem ganz anderen Winkel. (Er hat übrigens eine Vorliebe für leichte Untersichten.) Der ehemalige Schauspieler Capellani, der 1905 seinen ersten Kurzfilm realisierte, ein Jahr später zu Pathé ging und während des Ersten Weltkriegs sehr erfolgreich in den USA arbeitete, stand als Filmemacher auf der Höhe der Zeit. Als er 1924 aus Amerika zurückkehrte, fand der Pionier jedoch nicht mehr den Anschluss zum französischen Film. Dessen Arbeitsmethoden waren ihm fremd geworden, die ästhetischen Entwicklungen konnte er nicht mehr einholen. (Sein Sohn Roger setzte die Familientradition als Darsteller, Regisseur und Produzent fort, bis er 1940 in Dünkirchen fiel - er gehört zu den zigtausend französischen Soldaten, die in Christopher Nolans Film nicht vorkommen.) Eine der letzten Szenen in »Germinal« zeigt einen Greis und einen Säugling. Ihr ist ein Zwischentitel vorangestellt, der das Nebeneinander von Vergangenheit und Zukunft beschwört. Er bezeichnet natürlich auch das Spannungsfeld, in dem sich das Kino voranbewegt.

Fortschritte macht es, weil es Möglichkeiten und Notwendigkeiten in sich spürt. Wer mit einer Kamera Aufnahmen macht, kommt gewiss ziemlich bald auf die Idee, dass diese noch interessanter wären, wenn der Apparat sich bewegen könnte. Die Unzufriedenheit mit den gegebenen Verhältnissen ist eine mächtige Triebfeder. In einer Kunst, die nach André Malraux aus der Technik geboren wurde, ist der Fortschritt notwendig ein zweideutiges Feld. Er folgt nicht nur handwerklichem Erfindungsgeist, auch Künstler wollen der Vorstellungskraft auf die Sprünge helfen und sich dabei gegenseitig überbieten. Französische Kritiker und Historiker sprechen gern von den recherches stylistiques, wenn sie die Handschrift eines Filmemachers beschreiben. Unter diese stilistischen Forschungen fallen keineswegs nur revolutionäre Experimente, sie bezeichnen vor allem die Entwicklung einer eigenen Ausdrucksform. Diese Betrachtungsweise lässt Ungleichzeitigkeiten wertfrei zu: Ein avancierter Filmemacher ist nicht zwangsläufig besser als ein Zeitgenosse, der sich beschränkt.

Das ist nicht die schlechteste Voraussetzung, um zu der problematischen Kategorie des Klassikers zu gelangen, die ja ein nachträglich gefälltes Urteil impliziert. Sie hat übrigens zunächst einmal wenig mit Fortschritt zu tun. Eigentlich ist sie sogar ziemlich statisch, zugleich allerdings hängt sie stark von der Überlieferungssituation ab sowie anderen Unwägbarkeiten bzw. Moden der Geschichtsschreibung. Mithin stelle ich es mir nicht leicht vor, ein Programm mit Klassikern des französischen Stummfilms zusammen zu stellen. Friedemann Beyer hat diese kuratorische Herausforderung für das Berliner Kino Babylon angenommen. Vom 3. bis 13. August laufen am Rosenthaler Platz zahlreiche Glanzlichter (http://www.babylonberlin.de/stummfilmlivefestival.htm#AU_BONHEUR_DES_DAMES) dieser ebeno nationalstolzen wie kosmopolitischen Kinematografie: umsonst (wenn auch nicht draußen), zum höheren Ruhm der hauseigenen Kinoorgel (aber für Klavierbegleitung ist auch gesorgt).

Über die Auswahl muss man nicht streiten. Sie ist reich an Facetten, umfasst Unvermeidliches (ohne den  vorgeblichen Humanisten Jean Renoir geht es wohl nicht) ebenso wie Ungeläufiges (Henri Desfontaines gilt bislang nicht vielen als kanon-tauglicher Regisseur). Es gibt etliche Literaturverfilmungen zu sehen (Capellanis »Germinal« ist eine von vier Zola-Adaptionen), ein Schwerpunkt liegt auf den 1920er Jahren (dem Jahrzehnt, in dem sein Stil überholt war). Es ist eine Kinoepoche, die mit ihren Attraktionen zu prunken verstand und es nicht als Mangel empfand, stumm zu sein. (Überhaupt gab es damals, abgesehen von Howard Hawks, ja weltweit kaum Regisseure, die zum Tonfilm drängten.) im »Babylon« sind keine Altertümer zu besichtigen. Aber Truffaut hatte schon Recht, wenn er die Generation des Stummfilms in "Die Filme meines Lebens" unter der Rubrik "Das große Geheimnis" behandelt.

Zu meinen persönlichen Favoriten aus dieser Zeit gehören Julien Duvivier und Marcel L'Herbier. Die Sorgfalt, mit der Duvivier sich in »Poil de Carotte« in das Innenleben eines ungeliebten Kindes einfühlt, straft alle Kritiker Lügen, die den Regisseur später als gefühlskalten Pessimisten geißelten (er drehte kurz darauf auch ein Tonfilm-Remake); seine Adaption von Zolas »Au Bonheur des Dames« mutet fast futuristisch an. L'Herbier wiederum ist bei uns vor allem für das Bild bekannt, das er in »L'Inhumaine« von der architektonischen Moderne entwirft (Robert Mallet-Stevens und Fernand Léger wirkten federführend mit). Noch atemraubender finde ich jedoch seinen Blick auf (Stadt-) Landschaften: die bretonische Küste in »L'Homme du large«, die Alhambra in »El Dorado« und San Gimignano in »Feu Mathias Pascal«, der überdies mit dem trefflichen Ivan Mozhukin aufwarten kann.

Dieses Kino begrüßt ungestüm die eigenen Möglichkeiten. Nicht von ungefähr lautet der Titel von Jean Epsteins berühmtem Manifest "Bonjour Cinéma". Damit wird er zum großen, weil gescheit intuitiven Theoretiker dieser Epoche. Muntere Bereitschaft spricht aus dem Titel, wo sich der Traum ins Aufwachen hinüberrettet, um sich sodann in froher Erwartung ans Tagwerk zu begeben. Von Epstein läuft »Coeur fidèle«, eine Kaskade magischer Großaufnahmen, ein hitziges Kaleidoskop der filmischen Wahrnehmung, sowie »La Chute de la Maison Usher« (weniger eine getreue Verfilmung, als vielmehr die Assoziation diverser Motive aus dem Oeuvre Edgar Allen Poes), wo Epstein fast die Summe seiner Erzählmittel zieht: Geisterhaft lang verharrende Überblendungen, Zeitlupe und optische Tricks schaffen eine Atmosphäre des Übernatürlichen, einer rätselhaft melancholischen Bedrohung. Beim Blick auf das Programm könnte man den Eindruck gewinnen, in den 20ern sei in Frankreich die Avantgarde massentauglich geworden.

Tatsächlich steht Epstein im Zentrum einer Bewegung, die in Paris in den Taumel der Moderne geriet und von der Filmgeschichtsschreibung mit kreativer Ungenauigkeit zur "impressionistischen Schule" erklärt wurde: dank der Kunstfertigkeit, die es René Clair, Abel Gance, L’Herbier und anderen erlaubte, Atmosphäre und Figuren gleichsam mit leichten, zügigen Pinselstrichen zu gestalten. Damit wäre ich bei der Frage angelangt, vor deren Antwort ich mich bislang drückte: Was ist so französisch an diesen Stummfilmen? Nicht unbedingt das, was wir heute mit dem hexagonalen Kino assoziieren: ein leichtfüßiges, lebenskluges Savoir-vivre. Espritvoll ist es schon in stummen Zeiten, zumal bei dem verschmitzten Clair. Thematisch ist die damalige französische Produktion durchaus verwandt mit der aus Skandinavien und Hollywood. In seiner Dramatisierung von Stadt-Land-Gegensätzen gebricht es ihm aber an deren moralischer Rigorosität. Sie ist offener für Verlockungen; die Bedeutung, die weltläufige Ironie später im Melodram als Zwischenelement und Korrektiv gewinnt, muss sich aber erst noch entwickeln. Ästhetisch zielt es auf Raffinement. Erstaunlich etwa, wie L'Herbier den Bildraum nutzt, wie er Leere und Dunkel als graphische Elemente auffasst. Der französische Stummfilm kann sich selbstbewusst öffnen für Einflüsse, reflektiert das sowjetische Montagekino. Er ist eben ein stabiles, selbstreflexives Terrain. In der Ära des großen Geheimnisses wurden in Frankreich enorme technische Fortschritte gemacht, namentlich dank Gance und Kameraleuten wie Léonce-Henri Burel. Aber beflügelt wurde vor allem die erzählerische Phantasie.

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