Hinter einem Zug kann sich noch ein anderer verbergen

»The Jungle Book« (2016)

Das Warten an der Supermarktkasse ist eine Zeitspanne, die voller Verlockungen steckt. Dem Kunden bietet sich ein Aufgebot von Produkten dar, von denen er bis zu diesem Moment gar nicht wusste, dass er sie noch dringend braucht. "Finden sie das nicht auch schamlos?" fragte mich vor einigen Wochen ein Herr, der sich ebenso wie ich in Geduld üben musste. Er wies auf das Regal, in dem Schnapsfläschchen und Schokoriegel auf gelangweilte Abnehmer warteten.

Ich stimmte ihm zu, beließ es dann aber dabei, da sich bei solchen Gelegenheiten erfahrungsmäß selten fruchtbare Gespräche entwickeln. Einige Augenblicke später allerdings erregte ein Artikel, den er auf das Band stellte, meine Aufmerksamkeit. Es handelte sich um ein Päckchen mit Schoko-Milch. "Meine Kinder lieben die," klärte mich mein leutseliger Schicksalsgenosse auf. Ob sie denn besser schmecke, wollte ich wissen? "Keine Ahnung," erwiderte er, "aber der Film macht uns immer wieder Spaß." Der Markenname passte dazu, denn er verheißt den Käufern eine immer gute Qualität. Dass dieses Produkt von einer Molkerei aus Hessen stammt, musste ich allerdings erst recherchieren, denn auf den ersten Blick erweckte es den Eindruck, aus dem Hause Disney zu stammen. Die Verpackung ziert ein Bild aus dem »Dschungelbuch«, auf dem Mogli seinen Freund Balu umarmt. Es stammt wohlgemerkt aus dem Trickfilm von 1967 und nicht etwa aus der Neuverfilmung, deren Start zu diesem Zeitpunkt kurz bevorstand. Während ich nun meinerseits die Einkäufe auf das Kassenband legte, fragte ich mich, was für ein Marketingkonzept wohl dahinter stecken könnte? Landläufiger Merchandising-Logik müsste es doch eigentlich entsprechen, jungen Milchtrinkern unbedingt den neuen Film ans Herz zu legen.

Die Cleverness, nein: Weisheit dieser Werbestrategie erschloss sich mir einige Tage später, als die ersten Kritiken zu Jon Favreaus Adaption von Rudyard Kiplings Geschichtensammlung erschienen. Selbst in den klassischen Feuilletons musste man lange suchen, bis man auf den Namen des Autors stieß. Die Rezension der "Frankfurter Rundschau" kommt sogar ganz ohne dessen Erwähnung aus, nennt den Namen Disney hingegen ein Halbdutzend Mal und verweist überdies auf Joseph Conrad (was im Hinblick auf die King-Louie-Sequenz zwar Sinn ergibt, aber arglosen Leser doch in eine gewisse Verwirrung ob der literarischen Herkunft stürzen dürfte). Im Beitrag der "kulturzeit" auf 3SAT, deren eher intuitive als gründliche Recherche an diesem Ort ja schon gelegentlich gewürdigt wurde, war es ebenso: Bei dem "Original" handle es sich um den alten Trickfilm, der schließlich ins kollektive Gedächtnis eingegangen ist. Die rund 27 Millionen Kinobesucher, die ihn seit dem Start vor fast einem halben Jahrhundert gesehen haben, sind eine Marke, die sich nicht ignorieren lässt. Die hessische Molkerei war klug beraten, die Lizenzrechte zu erwerben; zumal sie nicht nur Schoko-, sondern auch fettarme H-Milch mit dem putzigen Logo vertreibt.

Disney/Favreau aus »Jungle Book« stellt mithin das einzigartige Phänomen dar, den Vergleich mit einem Vorgänger nicht zu scheuen, sondern offensiv zu suchen. Das kann er getrost; mir selbst gefällt er auch. Bedauerlich finde ich diese Sichtverengung dennoch, denn Kiplings Vorlage hat einige bemerkenswerte (die ersten zwei Realfilmversionen von Zoltan Korda, die sowjetische Trickfilmfassung der 1970er) Adaptionen hervorgebracht. Selbst die schlechteren (die Disney-Realfilm-Produktion von 1994, die klägliche Zeichentrick-Fortsetzung aus dem gleichen Hause) sind aufschlussreich in ihren Umdeutungen des Verhältnisses von Natur und Zivilisation. Über die ideologischen Zickzackkurse dieser Stoffgeschichte lässt sich vielleicht einmal unbefangener sprechen, wenn in ein, zwei Jahren Andy Serkis' Dschungelbuch-Variante in die Kinos kommt. Der als Barde des Kolonialismus' verfemte Kipling harrt noch seiner Rehabilitierung. Dabei schätzt man ihn selbst in Indien hoch – im Gegensatz zu England sind seine Bücher dort Schullektüre, was sich aber wiederum der ersten Disney-Version verdanken mag (»The Bare Necessities« ist anscheinend ungemein populär). In Indien entstand in diesem Jahr auch eine heimische Zeichentrickverfilmung, die jedoch bestimmt vom dortigen Rekordstart der Favreau-Version verdrängt werden wird. Die Gemengelage ist so unübersichtlich, dass mir dazu jene Verkehrsschilder einfallen, die in Frankreich Passanten an Bahnübergängen warnen. Eigentlich darf man noch eine weitere »Dschungelbuch«-Variante hinzuzählen, die hier zu Lande am gleichen Wochenende anlief: »Wild« von Nicolette Krebitz, der die Geschichte des Findelkindes unter Wölfen auf höchst faszinierende Weise umkehrt. An den Kinokassen hatte er gegen Disney natürlich keine Chance. Von denen im Supermarkt ganz zu schweigen.

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