Ein schwebendes Verfahren

Zum zweiten Mal in Folge ist auf dem Umschlag des Arsenal-Programms eine Action-Szene abgebildet. Im Juni war es ein Standfoto vom Tumult des Banküberfalls, den Michel Piccoli als eine der zwei Hauptfiguren von Claude Sautets „Das Mädchen und der Kommissar“ aufklären soll, obwohl er ihn selbst insgeheim initiiert hat. Das Juli-Heft ziert nun ein Szenefoto aus Don Siegels „The Lineup“ (Der Henker ist unterwegs), auf dem Polizeibeamten aus San Francisco zu sehen sind, die auf einem Highway versuchen, einen Auftragsmörder zu stellen.

Zwei Cover stellen noch keine Ballung oder programmatische Neuausrichtung dar, ungewohnt sind sie aber schon. Im Sommer erwartet der Berliner Kinogänger, die unvermeidliche Tarkowskij-Retrospektive annonciert zu sehen. In diesem Jahr jedoch gibt es mit einer Siegel-Retro ein robustes Gegenprogramm zum kontemplativen Ferienritual dieses Kinos.

Die Wahl des Szenenfotos ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Clint Eastwood als Dirty Harry konnte man schwerlich auf dem Umschlag platzieren, dafür wiegt der Verdacht politischer Unkorrektheit vielleicht immer noch zu schwer. Ein Motiv aus dem allegorischen Science-Fiction-Film „Invasion der Körperfresser“ wäre da politisch gewiss unverfänglicher gewesen. Der Gangsterfilm „Der Henker ist unterwegs“ hingegen erweckt auf den ersten Blick den Eindruck, fast nahtlos in den Genrekonventionen aufzugehen. Ich habe ihn lange nicht gesehen und bin sicher, dass ich mich in diesem Punkt irre. (Nun ja, zur Sicherheit habe ich den Vorbehalt „erweckt den Eindruck“ eingeflochten.) Das Szenenfoto verweist allerdings auch schon auf das besondere Gespür Siegels für die Erzählkraft von Originalschauplätzen. Ebenso wie in „Dirty Harry“ ist hier San Francisco sofort präsent; in dem gleichen Maße, in dem „Madigan“ (Nur noch 72 Stunden) und „Coogans großer Bluff“ die Topographie von New York für ihre Zwecke einspannen.

Am Freitagabend beginnt die bis Ende August laufende Reihe mit „Charley Varrick“ (Der große Coup), der einmal das Cover der Zeitschrift „Filmkritik“ zierte und somit einen Meilenstein in der deutschen Rezeption des Regisseurs setzte. Siegel war in Deutschland weniger ein Zankapfel der Kritik, als vielmehr ein schwebendes Verfahren. Bevor „Dirty Harry“ heftige ideologische Debatten auslöste, galt er gemeinhin als Spezialist für schlanke, pragmatisch erzählte Genrefilme. Dass er Action-Szenen originell und einfallsreich inszenierte, war nicht zu übersehen. Unlängst habe ich mir auf arte noch einmal „Coogans Bluff“ angesehen und war verblüfft, wie rissig er geschnitten ist: Bisweilen bricht eine Szene jäh mitten im letzten Wort eines Dialoges ab, da fühlt man sich fast wie in einem Haneke-Film der mittleren Periode. Die Zeit drängt ohnehin meist in seinen Filmen. Sein Stil ist trocken, er vergeudet keine Einstellung. Seine visuelle Vorstellungskraft ließ ihn anfangs über niedrige Budgets und klägliche Drehbücher triumphieren. Da war er wohl noch ein Routinier, der das Schlimmste zu verhindern wusste. Aber schon damals waren in seinen Filmen selbst schlechte Schauspieler gut.

Auf Anhieb (warum schon wieder ein Vorbehalt?) scheinen die Interessen des 1912 in Chicago als Sohn zweier Vaudevillekünstler geborenen Regisseurs deckungsgleich mit denen des Studiosystems. Er ist eher ein Schmuggler subversiver Themen als ein Bilderstürmer. Fast jedem populären Genre fügte er mindestens ein Kleinod hinzu: dem Science-Fiction-Thriller („Invasion der Körperfresser“), dem Kriegsfilm („Die ins Gras beißen“), dem Polizeifilm ((„Nur noch 72 Stunden“), dem Gangsterdrama („Tod eines Killers“) sowie dem Gefängnisfilm („Terror in Block 11“, „Flucht von Alcatraz“). Mit wehrhafter Melancholie inszenierte er 1976 John Waynes Abschied vom Kino („Der Scharfschütze“, heute übrigens Abend im Spätprogramm der ARD); nur die Komödie lag dem gelernten Cutter nicht. Welche geheimen, barocken Ambitionen er hegte, darüber gibt nur das hysterische Bürgerkriegsdrama „Betrogen“ Auskunft, der schönste (wenn auch nicht beste: da steht „Alcatraz“ dagegen) und erfolgloseste der fünf Filme, die er mit Clint Eastwood drehte. Über seinen verblüffenden Plan, Franz Werfels „Die 40 Tage des Musa Dagh“ zu verfilmen, habe ich in diesem Blog bereits mehrfach geschrieben. Wäre ihm das gelungen, nähme er in der Filmgeschichte sicher einen anderen Status ein. Ob nun einen höheren oder niederen, gehört dem Reich der Spekulation an.

Siegels Werk wirft jedenfalls eine grundlegende Frage auf, die sich auf einige Meister des Genrekinos münzen lässt: Beherrschte er sein Handwerk einfach nur besser als der Großteil seiner Kollegen oder besaß er eine unverkennbar eigene Handschrift? Seine relative Nüchternheit lässt ihn zu einem Antipoden des hitzigen Sam Fuller werden. Seine eigene Professionalität spiegelt sich jedsoch in der seiner Figuren. Sie ließ aber auch Spielraum für Ambivalenz. „Dirty Harry“ wurde von der zeitgenössischen Kritik als faschistoid geschmäht; er selbst nannte den Selbstjustiz übenden Polizeiinspektor hingegen bigott. Siegel verstand es, den Zuschauer auf die gleichen Ziele einzuschwören, die seine Helden verfolgen, ohne dabei ihre Brutalität zu entschuldigen. Bertrand Tavernier rühmte ihn als einen der virilsten und dynamischsten Regisseure Amerikas. Tatsächlich gewähren seine Filme tiefe Einblicke in die Psychopathologie von Gewalt und Erfolgsstreben. Seine Protagonisten sind meist unangepasste Individualisten (er hatte ein Faible für rebellische Schauspiele wie John Cassavetes, Steve McQueen und Lee Marvin), die in erbitterten Widerspruch geraten zu urbaner Korrumpierbarkeit. Gern beendet er seine Filme mit einer majestätischen Kranfahrt, die sich vom Helden löst und zu einem Panorama der Großstadt öffnet. Er wusste genau, was in seinen Figuren vorging. Bisweilen schleuderte er seinerseits den Konventionen Hollywoods den Fehdehandschuh ins Gesicht: Kein anderer Regisseur arbeitete so oft wie er mit Autoren und Schauspielern, die auf der Schwarze Liste standen.

Als ich vor gut anderthalb Jahrzehnten einmal für ein Buch (ein ganz schönes übrigens, das 2003 im Vertigo Verlag erschien und von Frank Arnold und Michael Esser herausgegeben wurde: „Dirty Harry. Don Siegel und seine Filme.“) in Frankreich über die dortige Rezeption seiner Filme recherchierte, waren einige meiner Pariser Kollegen ziemlich verblüfft: „Für den interessieren ja nicht einmal wir uns mehr!“ Sie irrten sich. Es traf sich, dass während meines Paris-Aufenthalts gerade „Tod eines Killers“ im Nachmittagsprogramm eines Kinos im 6. Arrondissements lief. Die Vorstellung war gut besucht. Seither ist er dort mindestens noch einmal neu als Reprise herausgekommen. Don Siegel ist ein vielleicht bescheidener, aber dennoch ein echter Ewigkeitswert des Kinos.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt