Public Viewing

Terry Gilliam

Von Berufs wegen gerät ein Filmkritiker selten in Verlegenheit, sich Gedanken über die Kleiderordnung zu machen. Bei feierlichen Premieren empfiehlt es sich natürlich nicht, in Räuberzivil zu erscheinen. Aber ansonsten senkt sich das Dunkel gnädig über jedwede Modeverirrung im Kinosaal. An diesem Abend bereitete mir die Frage nach der angemessenen Garderobe jedoch Kopfzerbrechen. Zu fein herausgeputzt wollte ich zu dem Anlass nicht erscheinen, ein allzu legeres Auftreten erschien mir aber ebenso riskant. In blauer Hose, hellblauem Hemd und dunklem Jackett hingegen würde ich mich wohl nicht blamieren. Auf dem Weg zum Bus begegnete mir ein schwarzgekleideter junger Mann, der gemessenen Schrittes auf ebenfalls schwarzen Stelzen ging. Ich nahm das als ein einfallsreiches Omen.

Denn der Abend versprach ein Karnevalsvergnügen. Ich schaute mir im Berliner Cinema Paris die Live-Übertragung einer Inszenierung der English National Opera in London an. Es wurde Hector Berlioz' »Benvenuto Cellini« gegeben, die Regie führte Terry Gilliam. Es ist bereits Gilliams zweiter Ausflug ins Genre der Opernregie, aber für mich war der Abend eine Premiere. (Meine Sorge erwies sich als unbegründet: Das Publikum war größtenteils sommerlich gekleidet und den in der Pause entkorkten Sekt durfte man aus Plastikgläsern trinken.) Bis zum letzten Dienstag hatte ich im Kino noch nie etwas anderes als Filme oder TV-Premieren gesehen. Also ging ich mit einiger Neugierde in diese Veranstaltung: Würde es Applaus geben, würden begeisterte Melomanen »Bravo!« oder »Brava!« im Kinosaal rufen oder gar ein »Da Capo«? Nichts von alledem, der Surround-Ton ersparte es dem Publikum, selbst in die Hände zu klatschen. Allerdings hatte ich den Eindruck, dass mehr Opernfreunde als Gilliam-Fans zugegen waren. Es fiel mir auch auf, dass ich nicht der einzige Zuschauer war, der sich Notizen machte. Vielleicht würde ich in den nächsten Tagen ja Kritiken lesen können – wobei ich Zweifel hatte, ob eine Übertragung tatsächlich einen ausreichenden Eindruck des Bühnenerlebnisses vermitteln könne.

Vor einigen Jahren las ich in einem Artikel von Georg Seeßlen, dass italienische Kinos bereits ein Drittel ihres Umsatzes nicht mit Filmen, sondern der Übertragung von Ereignissen wie Fußballspielen, Konzerten oder eben Opern machten. Damals mochte ich das nicht für bare Münze nehmen. Der Kinoleiter berichtete, dass sie gute Erfahrungen mit Übertragungen aus dem Bolschoi gemacht hätten, warnte mich jedoch, dass heute der Publikumszuspruch nur mäßig sei, da später Brasilien spielte und nur wenige hundert Meter entfernt im Astor zeitgleich eine Übertragung von Verdis »Traviata« aus Paris lief. Hätte ich vorher gewusst, dass Benoit Jacquot sie inszeniert hat, wäre das für mich ein schlimmes Dilemma geworden: Immerhin zählt er für mich zu den großen Filmemachern Frankreichs und seine Version von Massenets »Werther« beeindruckte mich vor ein paar Jahren bei der Ausstrahlung auf arte sehr.

Gleichviel, bei Terry Gilliam sollte ich auf meine Kosten kommen. Der Tenor der Londoner Kritiken war im Wesentlichen enthusiastisch. Berlioz' »Benvenuto Cellini« gilt als Oper, die schwer in den Griff zu bekommen ist: maßlos, verrückt, bombastisch, voller problematischer Stellen, eine immense Herausforderung an jeden Chor. Mithin wird sie selten aufgeführt (in England zum letzten Mal vor 40 Jahren) und Gilliam musste keine unvorteilhaften Vergleiche mit großen Vorgängern fürchten. Als notenunkundigem Filmkritiker fehlt es mir am Handwerkszeug, Ihnen glaubhaft darzulegen, ob das Dirigat Edward Gardners nun exzellent war und wie gut die Sänger an diesem Abend disponiert waren. Allerdings kann ich mir ein Urteil über Gilliams Arbeit erlauben. Im Vorfeld hatte er erklärt, wie gern er einen Spielfilm über Cellini gedreht hätte. Auch ich habe eine Schwäche für diese Figur, die bereits zweimal prächtig im Kino verkörpert wurde (zuerst von Fredric March in »The Affairs of Cellini« unter der Regie von Mitchell Leisen, später dann von Brett Halsey in Riccardo Fredas »Mit Faust und Degen«) und die meine Theorie bestätigt, dass der Mantel-und-Degen-Film ein fabelhaftes Genre sein kann, wenn er die Fechtkunst eng mit den anderen Künsten verknüpft.

Dieser romantische Aspekt faszinierte Gilliam ebenfalls. Die Massenszenen bereiteten ihm sichtlich Vergnügen (Cellini selbst tritt erstaunlich selten auf); zumal die volkstümliche Anarchie der langen Karnevalssequenz beflügelt seine Phantasie. Das Libretto konzentriert sich auf drei Tage im Leben des berüchtigten Goldschmiedes, der zwischen Rosenmontag und Aschermittwoch nicht nur eine Perseusstatue fertigstellen muss, sondern auch die Hand der schönen Teresa gewinnen will. Gilliam hatte die prächtige Idee, die Handlung aus der Renaissance ins viktorianische Zeitalter zu verlegen – während der Ouvertüre beklagen Zeitungsschlagzeilen die schleppenden Fortschritte der Arbeit an der Statue -, statt den banalen Weg zu gehen, sie in der Gegenwart anzusiedeln. Das lebenspralle Spektakel inszeniert er in einem Dekor, das mehrere Ebenen dramatisch in Höhe wie Tiefe des Bühnenraums staffelt. Er sucht gleichsam in der Fassade des Stücks Nischen, in denen sich seine bilderstürmerische Sensibität einnisten kann. Dem Geschehen auf der Bühne zieht er einen Boden der Subversion ein, in dem er einige Partien als Hosenrollen besetzt.

Zugegebenermaßen war ich ebenso fasziniert vom Drumherum, von der Dramaturgie eines solchen Kinoerlebnisses. Die Übertragung begann schon vor Beginn der Ouvertüre, stimmte den Berliner Kinogänger auf die Atmosphäre des sich langsam füllenden Coliseums in London ein. (Es hilft natürlich, wenn auch das Kino selbst ein reizvolles Ambiente besitzt, was im Cinema Paris und im Astor der Fall ist.) Ein Trailer, in dem Gilliam launig sein Vorhaben und seine erste Opernerfahrung schilderte, verkürzte die Wartezeit. Die Aufzeichnungsregie von Andy Morahan reagierte sodann bewundernswert agil und geistesgegenwärtig auf die Aufführung, einzig im ersten Bild des zweiten Aktes wirkte sie zuweilen unaufmerksam. In der Pause war ein leidlich interessantes Making-Of der Produktion zu sehen. Einige Trailer wiesen auf die Premieren der kommenden Saison in der English National Opera hin. Hellhörig wurde ich, als Mike Leigh seine Inszenierung von »The Pirates of Penzance« für das Frühjahr ankündigte (seit »Topsy Turvy« wissen wir, wie viel er mit dem Gespann Gilbert & Sullivan anfangen kann) und die Live-Übertragung als ein ganz eigenes, neues Medium pries. Im Grunde jedoch folgt es einem Grundimpuls des Kinos: den Zuschauer an einen anderen Ort, in eine andere Welt zu transportieren. Mir gefällt diese Vorstellung. Den Termin für die Übertragung von Leighs »Pirates« habe ich mir vorgemerkt: den 19.5. Ich werde zur Stelle sein. In Berlin und London.

PS: Heute war ich zu einer Pressevorführung im Astor und fragte die Kassiererin nach den dortigen Erfahrungen mit Opernübertragungen. Das Publikumsinteresse wächst stetig, versicherte sie mir. Bei »La Traviata« war das Kino am Dienstag ausverkauft, etliche Opernfans mussten draußen verzweifelt um Karten bitten. Täuschen wir uns nicht, das hatte wenig mit Benoit Jacquot zu tun. Verdi schlägt eben Berlioz.

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