Disney+: »The Bear« Staffel 2

»The Bear: King of the Kitchen« (Staffel 2, 2023). © Chuck Hodes/FX/Disney

© Chuck Hodes/FX/Disney

Zwischen Chaos und Fokus

Bären seien sensibel, treu, selbstlos und einfühlsam, zählt Cousine Michelle (Sarah Paulson) im Familienkreis auf, das habe ihr eine nervige Frau im Gespräch aufgedrängt. Und fügt dann mit einem verächtlichen Grinsen fort: »Angeblich können sie sogar Trauer empfinden.« Da reden die anderen schon wieder durcheinander, die Berzattos und ihr Anhang sind ein lauter und chaotischer Haufen, vor allem wenn sie wie hier an Weihnachten alle aufeinandertreffen.

Es ist die sechste und außergewöhnlichste der zehn neuen Episoden der Serie »The Bear«, die am 16. August auf Disney+ in die zweite Runde geht. Denn sie ist ein 66-minütiger Rückblick in die Vergangenheit einer italo-amerikanischen Familie, lange bevor deren Sohn Carmy (Jeremy Allen White) zuerst den Sandwich-Shop seines älteren Bruders Mikey übernimmt und daraus ein Restaurant namens »The Bear« macht. Mit dem Spitznamen sprechen sich die Geschwister Berzatto, Natalie, Carmy und Mikey, oft zärtlich gegenseitig an. In der Zeit nach Mikeys Suizid setzte die erste Staffel vor einem Jahr ein. Carmy ringt immer noch damit. All das schwingt in diesem kurzen Moment mit, in dem Michelle von Bären und ihren Eigenschaften spricht. Und zeigt, wie geschickt die Serie ihre Themen langsam freilegt, wie die Häute einer Zwiebel.

Als »The Bear« im vergangenen Sommer beim US-Sender Hulu anlief, entwickelte sich die Serie dort schnell vom unterschätzten Geheimtipp zum popkulturellen Phänomen. Das lag am atemlosen Tempo, mit dem der Alltag in der Imbissküche inszeniert wurde, die immer mehr als nur ein Workplace war. Es ging um Trauma und Trauer und darum, wie Teamwork und Ordnung das Chaos des Lebens beherrschbar machen. Und etwas Neues entstehen kann.

Staffel zwei erweist sich nun als eine Wiedergeburt unter neuen Vorzeichen, eine Version 2.0. Denn der Gourmetkoch und seine widerspenstige Crew wollen aus der runtergerockten Imbissbude ein Sternerestaurant machen. Ein Vorhaben, das sich in mehrerer Hinsicht als überfordernd erweist, angefangen von schimmeligen Decken und fehlenden Zulassungen. Während an der Renovierung des Ladens gewerkelt und dabei ebenso viel improvisiert wie geflucht wird, experimentiert Sydney (Ayo Edebiri), mittlerweile zur Chef de Cuisine aufgestiegen, mit einem ambitionierten »Chaos«-Menü, das Ungewohntes und Bekanntes vereinen soll und damit zum Rezept für die Serie selbst wird, die sich sehr anregend zwischen Tumult und penibler Konzentration bewegt. Wie Gänge eines elaborierten Menüs rücken in Einzelfolgen einzelne Figuren in den Fokus, nehmen sich Zeit für Feinheiten und Nuancen, für ihr Leben abseits des Lokals, das sich freilich nie davon trennen lässt. Den Figuren wird Raum gegeben zu wachsen und sich zu verändern. So wird Marcus (Lionel Boyce) in Kopenhagen in die hohe Kunst des Desserts eingeweiht, die er in seiner ganz eigenen gutmütigen Gelassenheit meistert. Und der erfahrenen Köchin Tina (Liza Colón-Zayas) gelingt es, ihre Wut in Neugier zu wandeln; sie gewinnt, von Sydney zum Souschef ernannt, mit der Verantwortung neues Selbstvertrauen. Carmys Schwester Natalie (Abby Elliot) versucht als Projektmanagerin, den Überblick zu behalten. Carmy selbst, das Arbeitstier, von seiner dysfunktionalen Familie traumatisiert, begegnet seiner Jugendfreundin Claire (Molly Gordon) und steht dabei sich und seinem Glück selbst im Weg, wie so oft.

In der Folge »Fische«, in der der Blick zurück zum eingangs erwähnten Weihnachtsessen bei den Berzattos fünf Jahre zuvor gerichtet wird, explodiert so mancher Konflikt, den man später noch schwelen sieht. Sie bietet einen Schlüssel dafür, warum Carmy so tickt, wie er tickt. Eine Sonderstellung innerhalb der Staffel hat die Folge zudem, weil man Familienmitglieder erlebt, die im Handlungsstrang der Gegenwart nicht dabei sind – die meisten hochkarätig besetzt. Die manisch-depressive Mutter Donna wird in einer emotionalen Tour de Force von Jamie Lee Curtis verkörpert, Bob Odenkirk gibt als Onkel Lee ein herrlich fieses Arschloch und Sarah Paulson erweist sich als Cousine Michelle als kühler Gegenpol.

Die prominenten Gastauftritte bringen eine Prise des jeweiligen Starimages mit sich, wirken dabei aber nie wie Fremdkörper. Als in einer anderen Folge Richie (Ebon Moss-Bachrach) im Gourmettempel nach einer Woche Gabelpolieren der omnipräsenten, aber nie selbst in Erscheinung getretenen Chefin Terry begegnet, wird der Moment zusätzlich aufgeladen, weil die Figur von Oscar-Preisträgerin Olivia Colman gespielt wird, die ihr einen ganz eigenen Schimmer verleiht.

Das Restaurant in »The Bear« ist ein Ort, der sich zwischen Arbeitsplatz, Mikroorganismus und (Wahl-)Familie bewegt, in dem Individualität und Gemeinschaft keine Gegensätze sind, sondern erst die Summe der Talente zum Gesamtkunstwerk beitragen. Die elaborierten Kreationen, das Austüfteln, die Sekunden- und Millimeterarbeit und das systematische Saubermachen und Sortieren der Arbeitsmittel stehen im starken Kontrast zur Un-Ordnung und der Katastrophe, die permanent abgewendet werden muss. Es ist eine fein austarierte Choreografie, im Restaurant ebenso wie in der Serie selbst, zwischen Chaos und Fokus. Am Ende kann man den Gesamteindruck der Serie tatsächlich wie einen präzise abgestimmten Menüablauf bewundern, bei dem viele Momente und Szenen gleichsam wie Geschmacksnoten in Erinnerung bleiben. In jedem Fall macht Staffel 2 Appetit auf mehr.

OV-Trailer

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