Buch-Tipp: Walter Benjamin – Kleine Geschichte der Photographie

Als die Bilder Schauer auslösten

Fast hundert Jahre, nachdem der Franzose Louis Daguerre (1787−1851) mit dem nach ihm benannten Bildgebungsverfahren, der Daguerreotypie, seine Zeitgenossen in Erstaunen versetzt hatte, erschien 1931 in der Wochenzeitung »Die literarische Welt« ein Aufsatz mit dem Titel »Kleine Geschichte der Photographie«. Darin macht sich Walter Benjamin (1892−1940) daran, Ordnung in die kulturkritischen Debatten zu bringen, die sich an die bahnbrechende Erfindung anschlossen. Bei welcher Gelegenheit er zudem präliminarische Gedanken zusammenträgt für seinen später zum Klassiker avancierten Essay »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (1936 in der »Zeitschrift für Sozialforschung« veröffentlicht).

Von heute aus gesehen, da eine längst unbeherrschbar gewordene Bilderflut uns mal hier- mal dorthin schleudert, ist es geradezu rührend zu lesen, was bereits Benjamin nurmehr als ferne Erinnerung rekapitulieren konnte: den ehrfürchtigen Schauer, den die Menschen angesichts ihrer ersten mechanisch erzeugten Abbilder empfanden. »Man getraute sich zuerst nicht, die ersten Bilder, die Daguerre anfertigte, lange anzusehen. Man scheute sich und glaubte, dass die winzigen Gesichter der Personen, die auf dem Bilde waren, einen selbst sehen könnten«, zitiert Benjamin den deutschen Fotografiepionier Carl Dauthendey (1819−1896).

Magisches Denken, noch, das sich bald abgelöst sah von der Frage nach dem Verhältnis der Kunst zur Fotografie. Benjamin bringt hier den Begriff der Aura ins Spiel; womit gemeint ist, dass ich mich mit einem Original-Kunstwerk zur gleichen Zeit im gleichen Raum befinde – woraus sich ein singulärer Moment konstituiert, dem etwas Erhabenes innewohnt (übrigens ein ähnlich pathetisch ins Transzendente weisender Begriff wie der der Aura). Das Verdämmern der Aura verstand Benjamin als Chance, insofern die solcherart vom alleinigen Zugriff der Herrschenden befreite und damit entmythologisierte Kunst eine aufklärerische Funktion im Emanzipationskampf der Gesellschaft übernehmen konnte.

Wiederum fast hundert Jahre später empfiehlt es sich, Benjamins Aufsatz – der nunmehr in einer schönen kleinen Ausgabe vorliegt, illustriert mit staunenswerten, frühen Fotografien und ergänzt durch einen aktualisierenden Essay des Benjamin-Spezialisten Wolfgang Matz – in einem gut gefüllten öffentlichen Verkehrsmittel zu lesen. Wo ein Aufblicken in die Runde das von Benjamin erhoffte revolutionäre Subjekt dabei zeigt, wie es auf Tiktok, Instagram, You­Tube  . . . versumpft.



Walter Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«. Herausgegeben und mit einem Essay von Wolfgang Matz. Alexander Verlag, Berlin 2023. 120 S., 18,- €.

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