Netflix: »1899«

»1899« (Serie, 2022). © Netflix

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Schiff der traumatisierten Seelen

Im Speisesaal der »Kerberos«, eines stattlichen Ozeandampfers, der am Vorabend des 20. Jahrhunderts Migranten von Europa in die USA bringen soll, zelebrieren die Passagiere erster Klasse eine gepflegte Langeweile. Weniger komfortabel ist die Passage für die skandinavischen Auswanderer unter Deck.

Der Funkspruch eines anderen Migrantenschiffs, das seit Monaten als vermisst gilt, veranlasst den Kapitän zur Kursänderung. Gegen den Willen der wohlhabenden Passagiere, die möglichst ohne Verzögerung in der Neuen Welt ankommen möchten, beschließt der Kapitän eine Rettungsaktion. Kurz darauf wird die »Prometheus« gesichtet. An Bord befindet sich jedoch keine Menschenseele. Bis auf ein Kind, das jemand in einen Schrank einsperrte. Das Kind schweigt.

Mit ihrer Netflix-Serie »Dark« setzten die Autorin Jantje Friese und Regisseur Baran bo Odar Maßstäbe. Die ambitionierte Nachfolgeproduktion, in der es um ein Bermudadreieck zwischen Alter und Neuer Welt geht, ist eine Art »Dark«k auf hoher See. In den Gängen der Geisterschiffe ist es düster wie im Wald von Winden. Und das Rätselraten, das in »Dark« zu einer neuen Kunstform überhöht wurde, führt in der gefühlten Fortsetzung dazu, dass die Spannung, langsam, quälend langsam steigt.

Kunstvoll kultivierte Unklarheit entsteht, weil sich an Bord der »Kerberos« Passagiere aus verschiedensten Ländern befinden. Alle sprechen ihre Sprache – ein modernes Babel. Jede Episode ist erzählt aus der Perspektive eines anderen Passagiers, der von einem Alptraum in den nächsten stolpert. Doch auf dem Schiff sind ihre Konflikte verflochten wie durch ein mehrdimensionales Möbiusband. Um diese traumatischen Endlosschleifen in ihren ethnischen Verwurzelungen glaubhaft zu erzählen, wurde der Drehbuchstab international erweitert.

Im Gegensatz zu »Dark«, wo durch den Wald und die fiktive Kleinstadt Winden auf organische Weise eine authentische Atmosphäre entsteht, bemerkt man in »1899« das Bestreben, eine aufwendige Großproduktion zu realisieren. Über 30 Millionen Dollar soll Netflix investiert haben. Gedreht wurde unter anderem in Babelsberg, wo man die virtuellen Kulissen für das »Star Wars«-Spinoff »The Mandalorian« nutzte. Das Ergebnis: eine forcierte Opulenz. Stehen wir auf Deck neben einem Passagier, dann schwebt die Kamera in einer Fahrt schwerelos über die Reling, um das gewaltige Schiff aus der Vogelperspektive zu zeigen: Technisch perfekt ist das schon. Aber eben auch steril. Und aus diesem Grund muss man Geduld mitbringen für diese Serie. Die Rätselmagie entfaltet ihre Wirkung nur langsam, quälend langsam.

Ungefähr so wie in »Solaris«, wo Menschen im Orbit eines fremden Planeten mit losen Enden ihrer Vergangenheit konfrontiert werden. Auch die Passagiere der »Kerberos« stoßen auf die schmerzlichen Trümmer ihrer Biografien. Der Kapitän etwa, dargestellt von Andreas Pietschmann – in »Dark« der rätselhafte Fremde –, ist ein traumatisierter Trinker. In seiner Kajüte entdeckt er plötzlich einen seltsamen gekachelten Schacht. Schnurstracks führt der ins Wohnzimmer seiner Frau, die sich und ihre beiden Töchter durch Brandstiftung umbrachte: vor zwei Jahren. In »Dark« wurden solche Qualen einer blutenden Seele durch jenes durchdringende elektronische Stöhnen untermalt, das zum Markenzeichen wurde. Der Soundtrack in »1899« ist noch ausgefeilter. Ein vielstimmiges Wispern, Echo der Klagen aus einer Nervenheilanstalt, lässt praktisch jede Schraube auf dem Schiff eine versteckte Botschaft flüstern. Wegweiser durch dieses Labyrinth ist ein seltsamer grüner Käfer mit ähnlicher Funktion wie das weiße Kaninchen bei Lewis Carroll. Eingerahmt wird diese audiovisuelle meditative Poesie durch ein Gedicht der Poetin Emily Dickinson: »The brain is wider than the sky – Der Geist ist weiter als der Himmel«. Gedanken enthalten alle Ozeane. Nach drei Folgen (mehr wurden vorab nicht preisgegeben) erwacht man wie in einer Opiumhöhle. Mit dem festen Vorsatz, weiter zu träumen.

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