Mubi: Werkschau Pelin Esmer

Pelin Esmer

Pelin Esmer

Dinge, die sonst unbeobachtet blieben

Der alte Herr Mithat versteht nicht, wieso die Leute sich in seine Lebensweise einmischen. Er versteht nicht, was seine »Sammlungen«, wie er die Dinghaufen nennt, die sich in seiner Wohnung bis unter die Zimmerdecken stapeln, die anderen überhaupt angehen. Erst recht versteht er nicht, wieso er aus einem perfekt stabilen Haus ausziehen muss, nur weil an dessen Stelle ein moderneres und noch stabileres gebaut werden soll. Herr Mithat, nunmehr also mit dem Einpacken seiner Sammlungen beschäftigt, beauftragt Hausmeister Ali mit den täglichen Sammlungs-Ergänzungsbesorgungen. Und Ali, bislang im Souterrain mehr oder weniger eingekerkert, lernt auf diese Weise erstmals seine nähere und fernere Umgebung kennen.

Herr Mithat, Protagonist von »10 to 11« (11'e 10 kala, 2009), wird dargestellt von Mithat Esmer, dem Onkel der türkischen Filmemacherin Pelin Esmer, deren noch schmales, doch bereits vielfach ausgezeichnetes Werk von drei Dokumentar- und drei Spielfilmen zurzeit bei Mubi zugänglich ist (mit Ausnahme des aktuellen »Queen Lear«, der sich derzeit noch bei Vimeo findet). 

Der Onkel und dessen rege Sammlertätigkeit standen bereits im Zentrum von Esmers Debüt, dem 2002 entstandenen, halblangen Dokumentarfilm »The Collector« (Koleksiyoncu: The Collector). Sowohl an der dokumentarischen wie an der semi-fiktionalen Annäherung fällt auf, dass sie ein Abstempeln Mithat Esmers als »Messie« nicht erlaubt – obwohl die Zustände in dessen Wohnung deutlich in jene Richtung weisen. Vielmehr wird in beiden Filmen behutsam und allmählich in der vermeintlichen Sonderlichkeit des Protagonisten das Besondere sichtbar. Soll heißen: eine andere Art der Weltwahrnehmung. 

Die Besessenheit des Onkels wird dabei nicht als Verrücktheit diskreditiert, sondern als sorgfältige und aufmerksame Widmung von Arbeitsenergie gezeigt. Seine Sicht auf die Welt und die Dinge in ihr bleibt unwidersprochen und sein Leben inmitten der gesammelten Gegenstände bildet einen faszinierenden, in sich geschlossenen, friedvollen Mikrokosmos innerhalb des riesigen, lärmenden Istanbul. So wird der fragile kleine Herr mit den dunklen, wachen Augen zum Archivar einer vom Verschwinden bedrohten Dingkultur, Hüter sonst unbeachteter Gegenstände, die in einigen Jahren Kristalle der Erinnerung sein werden. In seiner Wohnung stemmt sich das Analoge dem alles verschlingenden Digitalen entgegen, eine letzte Bastion der Entschleunigung und des Uneffektiven.

Ein unvoreingenommener, zurückhaltend neugieriger Blick zeichnet die Arbeiten Esmers aus, die 1972 in Istanbul geboren wurde und zunächst Soziologie studierte, bevor sie sich dem Filmemachen zuwandte. 2005 gründet sie mit Sinefilm ihre eigene Produktionsfirma und realisiert ihren zweiten Film »The Play« (Oyun), der ein ungewöhnliches Laienspiel-Projekt in Arslanköy in der Provinz Mersin dokumentiert: Unter der Leitung des Dorflehrers tun sich einfache Landfrauen zusammen und erarbeiten ein Theaterstück über die Beschwerlichkeiten ihres Daseins – Bildungsverbot, Zwangsheirat, Gewalt in der Ehe –, das nichts beschönigt. 

Im Flechtwerk der Ebenen, das sich aus Alltags- und Probenszenen zusammensetzt, wird das Theaterspielen als emanzipatorischer Akt sichtbar. Der in der Folge in der Gründung der Arslanköy Village Theater Group resultiert, deren Tournee durch die Bergdörfer Esmer nun wiederum in ihrem jüngsten Film »Queen Lear« (Kraliçe Lear, 2019) begleitet.

Zwischenzeitlich entstehen in den Jahren 2012 und 2017 mit den beiden Spielfilmen »Watchtower« (Gözetleme Kulesi) und »Something Useful« (Ise Yarar Bir Sey) gleichermaßen aufmerksame wie Distanz wahrende Schilderungen existenzieller Grenzerfahrungen. Die ungewollt schwangere Studentin und der schuldbeladene Waldhüter in »Watchtower« sowie die melancholische Poetin auf der Reise und die Krankenschwester mit traurigem Auftrag in »Something Useful« bilden Paare von Figuren, in deren jeweiliger Einsamkeit durch zarte Annäherung Trost und Hoffnung erwachsen. Und nicht zuletzt, dass dies ganz ohne auftrumpfenden, in Richtung Happy End weisenden Gestus gelingt, macht Pelin Esmers Werk zu einem unbedingt zu entdeckenden.

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