Und plötzlich ist Krieg

Ukraine – Zwischentöne
»Klondike« (2022)

»Klondike« (2022)

Der Krieg in der Ukraine ­erschüttert die Welt. Etwas von dem, was nun passiert, hätte man ahnen können – h­ätte man auch nur einige der ukrainischen Filme ­gesehen, die in den letzten Jahren ­entstanden sind. Jetzt kommt Alina ­Gorlovas »This Rain Will Never Stop« bei uns ins Kino. Barbara Wurm hat in der zweiten Märzwoche mit einigen Regisseur*innen gesprochen und beschreibt die Lage

Am Ende von Taras Tomenkos still beobachtendem Dokumentarfilm »Terykony«, der vor wenigen Wochen in der »Generation«-Sektion der Berlinale Premiere feierte und in diesem Monat beim »goEast«-Filmfestival in Wiesbaden zu sehen sein wird, steht die ansonsten in den Schutthalden der Ostukraine umherstreifende Nastya auf einer Bühne. Allein, in einem Saal, der nur für uns – das Publikum – beleuchtet worden zu sein scheint. Und doch wird er auch für das 14-jährige Mädchen selbst zum Echoraum. »Wie soll ich es euch erklären? Krieg, das ist … Menschen verstehen darunter unterschiedliche Dinge, aber für mich, wie soll ich das sagen, bedeutet der Krieg nur Schüsse. Wegen dieses Krieges wurde mein Vater getroffen und verletzt, später haben sich meine Eltern getrennt,  sind wieder bei ihren Eltern eingezogen, er wurde krank ... Für einige hat der Krieg eine Bedeutung. Für mich – ich weiß überhaupt nicht, wozu das. In diesem Monat, am 5. oder 6., ist es ein Jahr, dass mein Papa nicht mehr lebt.«

Dass im Donbass und damit in der Ukraine seit 2014 Krieg herrscht, wissen wir eigentlich. Auch aus Filmen, und nicht nur aus ukrainischen Produktionen, die es immer noch relativ selten in die oberen Sektionen der Festivals und noch seltener in unsere Kinos schaffen. Nastyas verzweifeltes Ringen um Worte wird von nun an jedoch – da auch wir es  mit einiger Verspätung verstanden haben, dass der Krieg wieder nach Europa zurückgekehrt ist – mit anderen Augen gesehen und mit offeneren Ohren gehört werden. Von zerrissenen Herzen gar nicht erst zu sprechen. Kamera und Mikro folgen Nastya, ihrem Freund Yarik, dem kleinen Bruder Arsenyi und anderen halbverwaisten Kindern, die ihren versehrten Verwandten mitunter mehr helfen können als diese ihnen. Indem sie Metall sammeln und mit aus Karton, Alufolie und Lichtketten gebastelten Sternen Weihnachtslieder singen, versuchen sie zu überleben zwischen den Ruinen, die der jahrhundertelange Bergbau und der fast ein Jahrzehnt andauernde russisch-separatistische Krieg gegen die Ostukraine hinterlassen haben. Tomenko, Jahrgang 1976 und damit zur mittleren Generation ukrainischer Regisseure gehörend, reist seit Jahren in die »Graue Zone«. 

Am 8. März schickte er per E-Mail ein Statement aus der Ukraine: »Als wir unseren Film »Terykony« zur Berlinale brachten, hatten wir noch die Hoffnung, dass man uns hören wird. Aber man hat uns nicht gehört ... Seit 13 Tagen haben die Russen 50 Kinder getötet. In Butscha, das dem Erdboden gleich gemacht wurde und wo die Menschen nun schon seit Tagen ohne Licht, Essen, Medikamente und Wasser in den Kellern sitzen, ­werden die Leichen direkt auf den Bürgersteig gelegt, und wenn die Menschen versuchen, aus den Pfützen Wasser zu holen, werden sie von russischen Heckenschützen beschossen ... Gestern wurde in Charkiw das »Slowo«-Haus beschossen, über das ich einen Dokumentar- und einen Spielfilm gedreht habe; das ist das Haus der Literaten in Charkiw, wo unter einem Dach die gesamte schriftstellerische Elite des Landes war, wo 1933 die stalinistischen Repressionen begannen, das Haus, in dem die gesamte ukrainische Elite vernichtet wurde ... Die Geschichte wiederholt sich.«

Mit »Terykony« – englisch »Boney Piles«, deutsch »Taubes Gestein« – hat Tomenko nicht nur den Menschen aus der versehrten Landschaft rund um die Stadt Torezk ein Denkmal gesetzt. Er hat ein Sinnbild geschaffen für eine Welt, die die Frage umtreibt, wofür es sich eigentlich noch zu leben lohnt.

Eine Welt in Schutt und Asche

Doch nicht nur diese Frage ist es, die die Menschen und Filmemacher*innen in der Ukraine beschäftigt. Längst sind sie einen Schritt weiter, viele kämpfen für das, wofür es sich für sie zu leben lohnt. Von diesem auf unterschiedlichen Ebenen geführten Kampf – vom strategischen in den Schützengräben und dem Überlebenskampf im Kriegsalltag über ideologische, politisch-moralische und persönliche Konflikte bis hin zur Dokumentation der aktuellen Kriegsverbrechen – handelt das aktuelle ukrainische Kino. Und von noch viel mehr. Denn das Gespür für Zwischentöne bleibt erhalten – trotz Schattendaseins als nichtrussischer und damit nichthegemonialer Erbfolger der Sowjetunion; trotz des ständigen Verdachts auf Nationalismus bei jeglicher Identitätsbefragung; trotz Korruption, die nicht zuletzt die Kulturpolitik des Landes betraf und gerade in den letzten Jahren den spürbaren Aufschwung, für den die unzähligen Akteure und besonders Akteurinnen in der Filmszene nun auch international standen, konterkarierte. Und schließlich: wider den nun die gesamte Ukraine (und Europa mit ihr) treffenden Krieg, der mit altbekannter neoimperialer (aktuell »großrussischer«) Wucht das Gift des Nationalchauvinismus bis in unsere Wohnzimmer zu sprühen droht und uns zum Nachsitzen verdonnert, zu klärenden Hermeneutiksitzungen rund um das Wort »Faschismus«. Eine Welt, die auf dem Sprung in die Emanzipation war, wird soeben in Schutt und Asche gelegt.

Power-Frauen

Für den diesem Rachefeldzug vorausgehenden Aufschwung des ukrainischen Kinos und die Etablierung vor allem junger Regisseur*innen in den letzten Jahren stehen stellvertretend die kuratorisch wie organisatorisch blühenden Festivals in Kiew (Molodist, DocuDays) und Odessa sowie die kleineren filmkulturellen und gesellschaftspolitischen Initiativen im ganzen Land, von Slavutych und Mariupol bis Lviv. Auffällig dabei ist, wie viele Power-Frauen an der Internationalisierung beteiligt sind, Festivalmacherinnen und Produzentinnen wie Yulia Sinkevitch oder Darya Bassel, Nadya Parfan, Natalia Libet oder Yulia Serdyukova. Aber auch Regisseurinnen wie die Deutsch-Ukrainerin Eva Neymann, die an der DFFB studiert und bei Kira Muratowa assistiert hat, der großen dissidentischen Lichtgestalt des ukrainischen Kinos während und nach der Sowjetzeit. Oder Natalia Vorozhbit, deren »Plokhiye dorogi« (Bad Roads, 2020) vier eigene Kurzgeschichten zu einem Bild des Alltagslebens während des Donbass-Krieges verwebt. Vorozhbit arbeitet mit dem Charkiwer Schriftsteller Serhij Zhadan genauso selbstverständlich zusammen wie mit den russischen Regisseur*innen der jüngeren Generation, Valeriya Gai Germanika und Natalya Meshchaninova; ihr aktuelles Projekt »Demons« wurde nur vier Tage vor Drehschluss vom Angriff der russischen Armee unterbrochen. 

Maryna Er Gorbach
Drei der nachdrücklichsten weiblichen (und feministischen) Regiestimmen – auch mit Blick auf den Krieg in der Ostukraine – sind die Dokumentarfilmerinnen Alina Gorlova und Iryna Tsilyk sowie Maryna Er Gorbach, deren Drama »Klondike« rund um den Abschuss des Malaysia-Airlines-Fluges 17 seine Sundance-Weltpremiere online feierte und im Februar, wenige Wochen vor Kriegsbeginn, in der Sektion »Panorama« der Berlinale gleich mehrere Preise abräumte. Das Schicksal ihrer Heldin Irka, die hochschwanger in den Ruinen ihres vom Flugzeugabschuss beschädigten Hauses ausharrt und dort die Schrecken des Krieges wie auf einer Bühne, mit Blick durch das nicht vorhandene Fenster wahrnimmt, steht nun angesichts der realen Entwicklung wie eine unauslöschbare Allegorie da. Von ähnlicher Bedeutsamkeit ist Iryna Tsilyks »The Earth is Blue as an Orange« (2020), der die anthropologischen und emotionalen Auswirkungen des Krieges auch im Mikrokosmos Familie beobachtet, allerdings mit dokumentarischen Mitteln. 

Alina Gorlova wiederum hat das vielleicht sensibelste und intellektuell radikalste Auge bei der Zusammenschau von Krieg und Mensch. Gemeinsam mit Tsilyk entstand 2017 »Invisible Battalion« über eine Gruppe von Soldatinnen. 2018 folgte mit »No Obvious Signs« die Fokussierung auf eine Einzelheldin, Oksana Yakubova, Majorin der ukrainischen Armee, die nicht nur im Schlachtfeld Mut zeigt, sondern sich auch der Therapierung ihrer posttraumatischen Belastungsstörung stellt (ein Tabuthema angesichts des Krieges). 2020 reüssierte Gorlova schließlich mit »This Rain Will Never Stop«, der Hauptpreise beim International Documentary Filmfestival Amsterdam und dem Wiesbadener »goEast«-Filmfestival erhielt und aktuell eine der gefragtesten Produktionen bei zahlreichen Fundraising-Screenings für die Ukraine ist. Der visuell eindrückliche expressionistische Schwarz-Weiß-Film weist auf den unmittelbaren Zusammenhang der Kriege in Syrien und der Ukraine hin, indem er dem kurdisch-ukrainischen Roten-Kreuz-Helfer Andriy Suleyman von Luhansk über das syrische und irakische Kurdistan bis nach Hamburg folgt und ein vom Krieg dominiertes Leben zeigt, geprägt von Vertreibung und Migration.

Antikriegskino

Genauso selbstverständlich wie die Frauen des Landes und der Filme in den Krieg einrücken, wenden sich männliche Nachwuchsregisseure den Zwischentönen zu. Größere und kleinere Erfolgsfilme der letzten drei, vier Jahre zeugen davon. Etwa Roman Bondarchuks surrealer, von den interkulturellen Missverständnissen zwischen OSZE-Delegierten und einer Ukraine zwischen EU-Orientierung und postsowjetischem Zustand handelnder Film »Vulkan« (Volcano, 2018). Und Nikon Romanchenkos »Tera« (2018), der die Ängste einer Süßwarenfabrikarbeiterin in der Westukraine schildert – als subtile Nervosität, als Warten am Telefon, auf das ersehnte Lebenszeichen ihres Sohnes, das ausbleibt. Dann ist da Nariman Aliev, dessen »Evge« (Homeward) 2019 in der Reihe »Un Certain Regard« in Cannes lief und die Aufmerksamkeit im russisch-ukrainischen Krimkrieg auf eine große marginalisierte Verlierergruppe lenkte, die Krimtataren. Alle diese Arthouse-Autorenfilme, so wenig bekannt sie auch hierzulande geblieben sein mögen, weisen mit Nachdruck auf die Existenz eines (Antikriegs-)Kinos jenseits der Blockbuster-Industrie hin – wobei letztere mit Akhtem Seitablayevs »Kiborgy« (Cyborgs – Heroes Never Die, 2017) über die Schlacht um den Flughafen Donezk 2014 bei allem Hollywood-Flair eine durchaus aufschlussreiche Kritik an den Eliten darstellt, für die die vielen Freiwilligen »durchhalten«. 

Klar ist, dass auch das Kino von den Härten des (Kriegs-)Alltags nicht verschont bleibt – und das Publikum dabei oft nicht schont. Neben Myroslav Slaboshpytskyii, der seit dem Cannes-Gewaltschocker »Plemja« (The Tribe, 2014) bis zuletzt an seinem vielversprechenden Tschernobyl-Filmprojekt »Luxembourg« arbeitet, gelten als die drei bekanntesten Regienamen der Ukraine (inklusive Diaspora) Sergei Loznitsa, Valentyn Vasyanovich und Oleg Sentsov. Auch sie engagieren sich zurzeit unmittelbar im und gegen den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Mit allen Waffen, die ihnen dafür zur Verfügung stehen.

Oleg Sentsov feierte erst kürzlich mit »Nosorih« (Rhino) sein Comeback als Regisseur. Nach seinem Debüt »Gamer« (2012) und der »Fern-Co-Regie« bei »Nomera« (Die Zahlen, 2019), der Verfilmung eines eigenen Textes, ist »Rhino« eine äußerst bemerkenswerte metaphysische Auseinandersetzung mit jener entfesselten kriminellen Energie, die die Zeit des späten Sozialismus und der Perestroika-Jahre prägte (ein Film, den es noch zu entdecken gilt!). Am Tag des Angriffs legte Sentsov nun demonstrativ die Kamera wieder ab und nahm das Maschinengewehr in die Hand. Er kämpft an der Front, erklärt über Twitter mit ruhiger, entschlossener Stimme, warum er beschlossen hat, seine Freunde, Familie und sein Land zu verteidigen, und kommunizierte über YouTube unter anderem einen Petitionsaufruf an die internationale (Film-)Community, die ihn nach seiner Kriminalisierung, Inhaftierung und Verurteilung zu 20 Jahren Lager wegen »Terrorismus« unterstützt hatte und seine vorzeitige Freilassung feierte. Der Widerstand gegen Putins blutiges Regime brauche auch die Unterstützung von Intellektuellen und Künstler*innen – unter anderem beim von der Ukrainischen Filmakademie geforderten Boykott der russischen Filmindustrie: keine Co-Produktionen, kein Verleih, keine Festivalvorführungen. 

Diesem von »Rhino«-Produzent Denis Ivanov und anderen Vertreter*innen der ukrainischen Filmindustrie initiierten vehementen Sanktionsaufruf (»Der Angriffskrieg Russlands hat sich in einen Unabhängigkeitskrieg gewandelt, in einen Krieg für Werte und Rechte ... Kein ›business as usual‹ mehr mit Putins Russland«) schloss sich auch Valentyn Vasyanovych gemeinsam mit sechs weiteren Filmemacher*innen und Produzent*innen an. Darunter die genannten Alina Gorlova, Maryna Er Gorbach, Roman Bondarchuk, dessen Familie in Mariupol unter den menschenrechtswidrigen Beschießungen der Zivilbevölkerung und in Chernihiv unter unkontrolliertem Bombenhagel leidet, und Nariman Aliev, der sich vom Schweigen vieler seiner russischen Filmkolleg*innen angesichts des Terrors entsetzt zeigt. Vasyanovic hat dem Leben und Überleben in der Ostukraine unter Kriegsbedingungen bereits seine zwei letzten Spielfilme gewidmet – beide feierten in Venedig ihre Weltpremiere. »Atlantis« (2019) ist eine im Jahr 2025, »ein Jahr nach dem Ende des Kriegs gegen Russland«, angesiedelte Dystopie, »Vidblysk« (Reflection, 2021) eine bis zur bewussten Unerträglichkeit physisch-gewaltsame Studie über eine posttraumatische Belastungsstörung, die die brutalen Folterorgien und zynischen Mechanismen der versteckten Kriegsführung in (allzu) statischen single frame shots festhält. Der »eiserne kulturelle Vorhang« müsse etabliert werden, so Vasyanovic, da die russische Kultur zum Einfallstor für die Propaganda eines terroristischen Staats geworden sei. 

Und in Russland?

Wie man mit diesen Forderungen umgehen soll, müssen internationale und deutsche Kulturinstitutionen, darunter auch Filmfestival-Leitungen, nun abwägen und entscheiden. Ein Treffen mit dem BKM fand am 25. Februar, kurz nach der Invasion, statt. Cannes und Venedig haben sich insofern positioniert, als man offizielle russische Delegationen ausladen wird, aber keine Sanktionierung von Personen und Filmen plant, die sich eindeutig gegen das Putin-Regime stellen. Freilich ist das eine Grauzone, die es je nach Einzelfall auszuleuchten gilt. Und auch das wird schwierig, denn offen gibt es aktuell in der russischen Filmszene weder laute Kriegshetzer oder explizite Putin-Fans noch – was verständlich ist angesichts der Gesetzesverschärfung, die die Verwendung des Wortes »Krieg« unter Strafe stellt – laute Gegner. Mutig hervorgetreten ist etwa »Leviathan«-Regisseur Andrei Zviagintsev, und auch die deutliche Stellungnahme des Produzenten und (nunmehr zurückgetretenen) Oscar-Komitee-Mitglieds Yevgeny Gindilis sei erwähnt, der gemeinsam mit prominenten Regisseur*innen (darunter Marina Razbezhkina, Aleksey Popogrebski, Boris Khlebnikov oder Ilya Khrzhanovsky) eine »Nein-zum-Krieg«-Deklaration verfasste.  

Schweigen ist die verbreitetste Reaktion in der russischen Kultur: betroffenes Schweigen, schuldiges, demoralisiertes, eingefrorenes, ängstliches und auch feiges, wie etwa im Fall der für das Internationale Filmfestival Moskau Verantwortlichen – allen voran Präsident Nikita Mikhalkov. Wie weit die Einschüchterungsstrategie des Putin-Regimes gediehen ist, lässt sich etwa daran bemessen, dass Aleksandr Sokurov, durchaus eine Größe mit Erfahrung im traditionsreichen Genre »Künstler vs. Souverän«, gemeinsam mit Menschenrechtlern eine Petition zum »Austausch von Gefangenen und Leichnamen von Getöteten« verfasste. Das sei ein »Appell der Schwäche«, so Anton Mazurov, ein Euphemismus, der zeige, wie »marginal die Protestbewegung sei«, dass sie eben »kein Massenphänomen« sei, sich die eigentliche nationale Regieprominenz nicht hervorwage. »Nicht direkt das Ende des Krieges zu fordern, sondern den Austausch von Gefangenen und Toten, ist eine pragmatische und keine systemische Forderung«, erklärt der seit über zehn Jahren mit dem internationalen Vertrieb oppositioneller Filme beschäftigte und das Regime offen kritisierende Mazurov (Gründer des Vertriebs Antipode-Sales, danach von Antidote-Sales) in einem Interview vom 7. März 2022. Sokurov hätte über die Jahre »mehr Klartext« als viele andere mit Putin gesprochen, »nur sind seine Batterien, sich zu widersetzen, auch irgendwann zu Ende, er ist ja nicht mehr der Jüngste.«

Nicht die Kultur, der Staat ist im Krieg

Sergei Loznitsa, der mit seinem Rücktritt aus der European Film Academy für Schlagzeilen gesorgt hat und ihr vorwarf, angesichts des barbarischen Krieges den Kopf in den Sand zu stecken – die Zeitschrift »Screen« veröffentlichte seine Erklärung in voller Länge –, bezog auch zur Boykott-Aufforderung eindeutig Stellung. In einem Interview am 4.3.2022  sagte er:  »Was hat die Nationalität damit zu tun, was hat ein Pass damit zu tun? Es gibt nur Menschen. Ich bin kategorisch gegen diesen Ansatz, Menschen zu streichen, die der Kultur des Staates angehören, der sich mit Ihnen im Krieg befindet. Nicht die Kultur ist im Krieg, sondern der Staat ist im Krieg. Auch dort gibt es anständige Menschen, sie sind Opfer dieser Umstände. Sie sind Opfer wie wir alle. Die erste Person, die mir an diesem Morgen schrieb, war Victor Kossakovsky. Er schrieb mir: ›Es tut mir leid, ich schäme mich sehr, es ist eine Katastrophe.‹ Er ist ein anständiger Mann, der sich schrecklich fühlt bei dem, was passiert ist. Aber nehmen wir an, er hat einen russischen Pass. Was nun, sollen wir uns seine Filme nicht ansehen, ihn streichen und sanktionieren? Das ist nicht fair, wir sollten nicht verrückt werden. Das Prinzip muss sein: Wir unterstützen alle anständigen, ehrlichen, moralischen und sittlichen Menschen.«

Vehement appellierte der Regisseur, der mit Filmen wie »Maidan« (2014), »Donbass« (2018) und zuletzt »Babyn Jar. Kontext« (2021) die von der Gewalt autoritärer Regime durchzogene (Zeit-)Geschichte der Ukraine vermisst, für ein von der NATO überwachtes Flugverbot. »Dies ist ein Krieg, der der gesamten zivilisierten Menschheit erklärt wurde, und das heißt: Teilnehmen! ... Wir haben Angst, weil wir nicht wollen, dass die NATO sich beteiligt. Wenn das aber nicht geschieht, werden sie dennoch die Ukraine zerstören, und dann Polen und dann Deutschland ... Diese Angst ist mittlerweile überhaupt nicht mehr produktiv. Ein Atomangriff, vor dem alle Angst haben, liegt nämlich längst in der Situation selbst, in der Mentalität des Putin'schen Regimes, er ist vorherbestimmt. Dazu muss man sich ernsthaft positionieren und alles tun, damit die Folgen weniger ­zerstörerisch sind. Dazustehen, zu sitzen, zu warten, bis er die ­Ukraine erdrückt hat, ist einfach unmoralisch. Das ist un-mo-ra-lisch ... Der Luftraum muss geschlossen werden, das ist das Minimum, ohne Angst.« 

Das deutsche Bewusstsein hinke hinter der Realität her. »Diese Trägheit scheint unüberwindbar. Man kann noch so oft etwas sagen. Jetzt zum Beispiel wird mein Film »Donbass« wieder gezeigt. Ich habe diesen Film 2018 gedreht, als Warnung. Man hat ihn in Deutschland kaum gezeigt, er lief nur in wenigen Kinos. Niemand kümmerte sich um ihn. Was soll man machen? ... Jetzt kommen alle: Wir wollen ihn zeigen. Sehen. Bitte, okay. Versuchen wir es mit einem zweiten Verleihdurchgang. Vielleicht erklärt er jemandem etwas. Aber es ist zu spät! Alle diese Warnungen gab es schon lange, aber jetzt erst sind alle aufgewacht.« 

Die Position Loznitsas wird gern als »leicht gesagt« abgetan, nicht zuletzt weil er seit Jahren in Deutschland lebt. Die Warnungen werden aber umso hörbarer und eindrücklicher, wenn sie auch von leisen Stimmen kommen. Eine herausragende Vertreterin dieser soft power ist Kateryna Gornostai, deren wundersame Teenage-Liebestraumballade »Stop-Zemlia« nicht nur bei der Sommer-Berlinale gefeiert, sondern im August 2021 zum erklärten Liebling des heimischen Odessa-Filmfestivals wurde. Die junge alternative Ukraine feierte sich damals. Eine Vorführung vor mehr als 1000 Leuten, eine Strandparty mit Glitzergesichtern. Der Film selbst ebenfalls: ein Ausdruck der Sehnsucht nach einem friedlichen Leben, das Platz für so normale Emotionen wie Verliebtsein und Freundschaft lässt. Dieselbe Kateryna, mit der man noch vor kurzem in Berlin und Odessa spazieren konnte, lebt nun wie viele andere ukrainische Filmemacher*innen im von Bombenangriffen bedrohten Kiew. Auch sie spricht von der Surrealität, mit der dieser Krieg über alle hereingebrochen sei, von der Angst, die es zu überwinden gelte angesichts der willkürlich einschlagenden Geschosse; auch sie spricht von der Enttäuschung über die NATO-Entscheidung, auch sie schloss sich der Forderung nach dem Flugverbot an. Für den Boykott-Aufruf ihrer Kolleg*innen bittet sie um Verständnis – angesichts der unfassbaren Aggression, die vom russischen Regime ausgehe. Sie leide sehr darunter, sagte sie mir in einem zwischendurch möglichen Telefonat am 5. März, dass ihre sonst so feinen Adern für die Zwischentöne momentan brachlägen. Überhaupt sei das einer der wenigen Momente ihres Lebens, wo sie nur selten an ihre künstlerische Leidenschaft – das Fotografieren – denken könne. 

Das Leid dokumentieren

Das Filmemachen in der Ukraine steht aktuell unter einem anderen Stern. Geld wird auch hierzulande gesammelt, nicht nur für »filmmakers at risk«, die flüchten, sondern auch für die, die in der Ukraine bleiben und ihre Arbeit vor Ort und unter den schwierigsten Bedingungen fortsetzen. Zum Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg gehört auch das Dokumentieren von Verbrechen an der zivilen Bevölkerung. Hier gibt es längerfristige Produktionen, die vielleicht irgendwann einmal auf unseren Leinwänden oder Bildschirmen zu sehen sein werden; es gibt aber auch kleinere Partisanen-Units, die bereits täglich mit Kriegsberichterstattungs-Clips dafür sorgen, dass die Welt Details von der fortschreitenden Zerstörung der Ukraine erfährt. Die Gruppe »Babylon 13«, die schon bei den Maidan-Ereignissen aktiv war, gehört dazu. Der Ankauf von Schutzwesten und Ausrüstung für diese jungen Leute ist notwendig – und ein Teil humanitärer Hilfe. Auch wenn es wie der böse Traum der Filmhistorikerin klingt, die bei Frontkamera-Einsatz und Ukraine immer noch eher an den Ahnherrn der ukrainischen Kinematographie, Oleksandr Dovzhenko, und seine heroisch-pathetische Dokumentierung der »Bitva za nashu Sovetskuyu Ukrainu« (Schlacht um unsere Sozialistische Ukraine, 1943) denkt. Das nach ihm benannte Filmstudio und, noch schlimmer, das nach ihm benannte Staatliche Filmarchiv sind nun in Gefahr, im Bombenhagel unterzugehen. Mögen wir aus dem aktuellen Alptraum so schnell wie möglich aufwachen. Damit bald wieder mehr Zwischentöne hörbar werden.

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