Filmschurken: Sympathy for the Devil

Kommt zurück, ihr Fieslinge!
»Joker« (2019). © Warner Bros. Pictures

»Joker« (2019). © Warner Bros. Pictures

Hannibal, Maleficent und jetzt der »Joker« – Spin-offs mit Schurken liegen im Trend. Unsere Autoren finden: Diese klassischen Kinobösewichte, bisher noch Einzeltäter, hätten auch mal einen eigenen Film verdient


Frank Booth (»Blue Velvet«, 1986) – Agent des Chaos

Im Grunde seiner Seele ist der widerliche, brutale Dealer und Zuhälter Frank Booth höchst empfindsam. Wenn »Blue Velvet« erklingt, steigen ihm die Tränen in die Augen, und Roy Orbisons »In Dreams« (»A candycoloured clown they call the sandman . . . «) bewegt ihn bis an den Rand des Nervenzusammenbruchs. Seine Zerrissenheit macht diesen Bösewicht in schwarzem Leder und mit dem rätselhaften Drogeninhalator so faszinierend. Wie kein anderer Finsterling ist Frank zugleich saukomisch und extrem furchterregend. So wird er in der seltsamen Welt von David Lynchs »Blue Velvet« zur perfekten Verkörperung der Nachtseite der Kleinstadtidylle Lumberton und zum Gegenspieler von Kyle MacLachlans nassforschem Helden. Nur um die Nachtclubsängerin Dorothy zu seiner Sexsklavin zu machen, hat er ihren Mann und ihren Sohn entführt. Und jedem, der Franks sexuelle Raserei samt fliegendem Wechsel zwischen den Rollen »Baby« und »Daddy« je gesehen hat, dürfte sich die grenzenlose Obszönität dieser Szene für immer ins Gedächtnis gebrannt haben.

Frank ist ganz und gar unberechenbar, ein Psychopath als Agent des Chaos, wie das finstere Gegenstück zum ebenso unberechenbaren, doch fröhlichen Anarcho Harpo Marx. In einem Moment tut Frank noch jovial, im nächsten schlägt er zu, und stets interpunktieren Wutausbrüche und unzählige »fuck« seine kurzlebigen Stimmungen.

Was hätte Frank in seinem eigenen Film nicht alles anstellen können! Allein die vielen knackigen Oneliner, die er zusätzlich zu den jetzt schon unsterblichen – »Don't you fucking look at me!«; »One thing I can't fucking stand is warm beer, makes me fucking puke!« – noch hätte auswerfen können. Und auch der »origin story« seiner kaputten Männlichkeit zwischen Brutalo-Machogehabe und »Mommy! Baby wants to fuck!«-Gewinsel hätte sein Film mal auf den Grund gehen können . . . Aber Dennis Hopper, der sich bei David Lynch bereits mit den Worten »Ich bin Frank Booth!« für die Rolle beworben hatte, ist nun schon bald zehn Jahre tot. Also vergessen wir das besser schnell wieder.
Patrick Seyboth

Valentin (»Der Tag bricht an«, 1939) – Das Wort als Waffe

Er ist der französischste aller Bösewichte. Da versteht es sich, dass das Wort seine gefährlichste Waffe ist. Valentin, der Hundedompteur aus »Der Tag bricht an«, kann es sich sogar selbst im Munde umdrehen. Lügen, Märchen und Täuschungsmanöver schüttelt dieser Causeur locker aus dem Ärmel. Jeder geht ihm auf den Leim, er hat Macht über die Frauen und treibt den unbescholtenen Proletarier Jean Gabin zum Äußersten. Selbst den Zuschauer bringt dieser raffinierte Schmeichler dazu, Mitleid zu empfinden für die Boshaftigkeit, mit der das Schicksal ihn nun einmal ausgestattet hat. Jules Berry ist der Dämon vom Boulevardtheater, der im Kino der 30er den Hoffnungen der Volksfront ein Ende setzt, vier Jahre vorher als gewissenloser Todtäuscher in »Das Verbrechen des Monsieur Lange«, der nach dem Bankrott noch rasch die unschuldige Nachbarstochter verführt, und dann 1939 als Dompteur, der die Pfoten seiner Hunde mit glühenden Eisen versengt und auf der Varieté-Bühne mit der Peitsche traktiert. Dank seines unbeugsamen Elans, seiner angemaßten Eleganz und seiner ausholenden Gesten beherrscht er jede Szene. Seine prominente Nase wirkt so entschlossen wie sein Gang. Was kann so einer danach noch spielen? Den Leibhaftigen natürlich. Das tut Berry mit der ihm eigenen Verve in Marcel Carnés »Die Nacht mit dem Teufel«: als vergnügter Schwätzer, der das Feuer liebt und die wahre Liebe fürchtet. Die Worte hat ihm Jacques Prévert in dieser Trilogie der Niedertracht in den Mund gelegt. Nie war die Dämonie so charmant und poetisch wie bei diesem Gespann.
Gerhard Midding

Yubaba (»Chihiros Reise ins Zauberland«, 2001) – Die mit der Nase

Weil ihre Eltern sich an der Götterspeise vergriffen haben und zur Strafe in Schweine verwandelt wurden, muss das Mädchen Chihiro bei der Hexe Yubaba um Arbeit nachsuchen, um so möglicherweise den Fluch aufzuheben. Und Yubaba ist nun wahrlich nicht irgendeine Hexe! Sie sieht aus wie eine zum Quadrat gestauchte Oma, komplett mit Reifröcken und Gründerzeitfrisur, ein Energiewürfel, der an jedem Finger einen bombastischen Ring trägt. Denn Yubaba liebt das Geschmeide und die Opulenz. Doch das Gefunkel der Juwelen kann gegen den gigantischen Zinken, der aus ihrem Gesicht ragt – als habe die Figur einen Griff – nicht anstinken. Ehrfurcht gebietend ist ihre Erscheinung, machtvoll ihre Stimme und erratisch ihr Treiben. Nachts führt Yubaba geschickt und kundig und gerecht ein Badehaus für die zahllosen Götter Japans – was macht sie tagsüber? Auch darüber erführen wir gerne mehr, denn: Wie kam das Riesenbaby in ihre Obhut, das durch ihre Gemächer stampft und dessen Greinen ihr scheinbar so hartes Herz sofort zum Schmelzen bringt? Wieso ist sie mit ihrer Zwillingsschwester Zeniba derart zerstritten? Warum hüpfen in ihrem Arbeitszimmer drei grüne Köpfe herum? Und wie trat Flussdrache Haku in ihre Dienste? Fragen über Fragen. Doch Meister Miyazaki, der Yubaba erfunden hat, lässt ihr, wie es eben seine Art ist, ihre Geheimnisse und schnitzt verschmitzt noch ein paar Schnörkel mehr an ihre barocke Gestalt. Darunter keinen Besen, denn eine wie sie, die fliegt einfach so.
Alexandra Seitz

Mrs. Danvers (»Rebecca«, 1940) – Eyes Wide Open

Niemand hat das Prinzip der Loyalität gegenüber ihrer Dienstherrin mehr verinnerlicht als Mrs. Danvers in Alfred Hitchcocks »Rebecca« (1940) – und das über den Tod hinaus. Sie hätte sehr wohl eine neue, sehr viel prominentere Anstellung auf der Leinwand verdient. Rebecca erzählt von einer jungen Frau (Joan Fontaine) aus einfachen Verhältnissen, die den wohlhabenden Witwer de Winter (Laurence Olivier) heiratet und frisch vermählt in dessen Anwesen Manderley zieht. Dort hat die Gesellschafterin Mrs. Danvers (Judith Anderson) die Zügel in der Hand und macht der Nachfolgerin das Leben zur Hölle. Was geschah damals wirklich? Wie nah standen sich die verstorbene Rebecca de Winter und ihre Zofe? Und was trieb die ebenso schöne wie wohlhabende Frau in den Tod?

Mrs. Danvers' Auftritt ist ikonisch in seiner Strenge, stets im hochgeschlossenen schwarzen Gewand mit schmalem weißem Kragen, die Arme leicht vor ihrem Körper verschränkt, die linke Hand grundsätzlich über der rechten. Kaum ein Blinzeln ist in ihrem Blick zu vernehmen, die starrenden Augen weit offen. Überhaupt wirkt sie nicht bloß unheimlich, sondern geradezu übernatürlich. Unvermittelt taucht sie auf, geht nicht einfach, sondern scheint zu schweben. So akkurat und immer gleich ihr Äußeres, so schillernd ist ihre Charakterzeichnung – durchaus ausbaufähig in ihrer Mischung aus ergebener Bediensteter und böser Stiefmutter, quälender Dominatrix und trauernder Geliebter. Etikette und Disziplin, gepaart mit kühl kalkulierten Rachegelüsten. Davon würden wir sehr gern mehr sehen.

Netflix hat nun für 2020 eine seit langem geplante Neuverfilmung des Romans von Daphne du Maurier angekündigt. Regie führt Ben Wheatley, Armie Hammer und Lily James spielen die Hauptrollen als Neuvermählte. Mrs. Danvers selbst wird von Kristin Scott Thomas verkörpert. Eine vielversprechende Besetzung. Doch die Königin aller bösen Gouvernanten hätte ihren ganz eigenen düsteren Platz im Rampenlicht verdient.
Thomas Abeltshauser

Anton Chigurh (»No Country for Old Men«, 2007) – Leichen pflastern seinen Weg

Wie soll man Anton Chigurh beschreiben? Da ist sein gescheitelter Topfschnitt, der ihn wenig attraktiv macht, woran das hydraulische Bolzenschussgerät, das er stets mit sich schleift, nichts zum Positiven ändert. Später heißt es, er habe absolut keinen Sinn für Humor, aber da irrt Woody Harrelson als Carson Wells vielleicht auch. Ein gewisses Verständnis für Ironie kann man dem soziopathischen Killer nämlich nicht absprechen, wie die vielleicht einprägsamste Szene in »No Country for Old Men« beweist. Die Rede ist selbstverständlich von »Was ist das Höchste, was Sie je beim Münzewerfen verloren haben?«, Chigurhs kleine Wette mit dem netten, aber ein bisschen zu redseligen und um einiges zu begriffsstutzigen texanischen Tankstellenbesitzer. Huscht nicht sogar so etwas wie ein Lächeln über sein Gesicht, als Chigurh den Alten schließlich dazu auffordert, die Münze, die ihm unwissentlich gerade das Leben gerettet hat, nicht wie alle anderen Münzen zu behandeln? Was den Schrecken, den Javier Bardem als Chigurh im ganzen Film verbreitet, keineswegs schmälert, sondern im Gegenteil, der pervertierte Sinn für Humor verleiht seiner Gewalt eine eisige Konsequenz, die einen noch Tage nach dem Film fröstelnd zusammenzucken lässt. Was will dieser Mann? Ist es wirklich das Geld, das ihn so ruchlos morden lässt? Seit wann folgt er der Devise, die einmal ausgesprochenen Versprechen bis zur Sinnlosigkeit umzusetzen? Und wie kam er zum Bolzenschussgerät als Lieblingswaffe? Wenn das keine »origin story« wert ist.
Barbara Schweizerhof

Hans Gruber (»Stirb Langsam«, 1988) – Nie ohne Schlips

Wenn er und seine Kumpane den Laster verlassen, um den Nakatomi-Tower in Los Angeles zu besetzen, mit Taschen voller Waffen, hört man auf der Tonspur Beethoven/Schillers »Ode an die Freude«, wenn auch ziemlich zerrissen und unheilvoll dräuend. Sicher, Hans Gruber ist geborener Deutscher, aber genauso spielt das musikalische Zitat auf sein Elysium an: das Wertpapiergeld der japanischen Firma. Gruber und sein Team sind Professionals und High-Tech-Gangster, dem Gesetz immer ein Stück voraus – nur mit dem Cop John McClane haben sie nicht gerechnet. Gruber ist charismatisch, korrekt gekleidet im Anzug mit Schlips, bis zu seinem Tod – und skrupellos, ohne jede menschliche emotionale Regung. Den Direktor der Firma legt er ohne Augenzwinkern um. Alan Rickman, in seiner ersten Kinorolle, spielt diesen Hans Gruber nonchalant – Rückschläge quittiert er nur mit einem Ausdruck der Langeweile, des Überdrusses. In der amerikanischen Originalfassung sind Gruber und sein Team tatsächlich deutsche Terroristen, die deutsche Synchronfassung machte aus ihnen simple Gangster. Das entschärfte den Film natürlich und passte ihn dem hiesigen Markt an. Aber wenn man »Stirb langsam« heute wiedersieht, wirkt Hans Gruber ein bisschen wie ein Vorbote des skrupellosen Turbokapitalismus der 2010er Jahre. Wenn auch, zugegeben, mit anderen Mitteln. Vielleicht könnte ein Prequel enthüllen, wieso er Verbrecher und nicht Banker wurde?
Rudolf Worschech

Regina George  (»Girls Club – Vorsicht bissig!«, 2004) – High School Diktatorin

Mit »Mean Girls« hat Drehbuchautorin Tina Fey nicht nur einen der meistzitierten und ikonischsten Highschool-Filme aller Zeiten hervorgebracht, sondern auch eine Antagonistin, die in den 15 Jahren seit Erscheinen des Films schon fast den Legendenstatus erreicht hat. Die Rede ist von Regina George (Rachel McAdams), Queen Bee der North Shore High School, Anführerin der Plastics. Was beim kurzen Hinsehen nach der typischen hinterhältigen Highschool-Cheerleaderin aussieht, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als äußerst intelligente und berechnende Anführerin eines diktatorischen Regimes. Manipulation, Unterdrückung, Gerüchte und Psychospielchen – das sind die Waffen von Regina George. Schon wenige gezielt gewählte Worte genügen, um ihr Ziel zu erreichen. Sie ist sehr deutlich zu erkennen als das unangefochtene Oberhaupt ihrer Freundesgruppe, der Plastics, wobei ihr Karen Smith und Gretchen Wieners eher als Untertanen oder Accessoires dienen. Strikte Regeln gewährleisten deren Loyalität, da bei Missachtung sofort der Rauswurf – und folglich der soziale Ruin droht. Jegliche Entwicklung, Person oder Freundschaft, die der Regentschaft gefährlich werden könnte, wird sofort unschädlich gemacht, wobei ihr so ziemlich jedes Mittel recht ist. Die Fragen, wie sich Regina ihr Imperium aufgebaut hat und wie es mit ihr nach der Highschool weitergeht, stehen seit dem Ende des Films im Raum und bieten Material für einen Standalone-Film. Egal was: Hauptsache, mehr von Regina! Denn trotz ihrer diktatorischen Züge und unethischen Vorgehensweise strahlt sie eine faszinierende Anziehungskraft aus und wurde, auch dank ihrer unvergesslichen Oneliner, zu einer der meistgefeierten Filmbösewichtinnen der letzten Jahrzehnte.
Sabrina Reichhard

Tommy Udo (»Kiss of Death«, 1947) – Großstadt-Psycho

Die Mundwinkel markieren eine Kurve des Irrsinns, die Zähne drängen sich ins Bild: Manchmal sieht Richard Widmark in dem vor Ort in New York gedrehten Noir-Klassiker »Kiss of Death« aus wie eine frühe Liveversion des Joker. Das ist kein Zufall: Widmark war ein Fan der Batman-Comics, der Joker seine Inspiration (und hat er nicht wiederum auf Heath Ledgers Performance abgefärbt?) Der unbekannte, dünne blonde Schauspieler mit der intellektuellen Stirn – Henry Hathaway verordnete ihm ein Haarteil – war nicht die erste Wahl für die Rolle des Gangsters Tommy Udo. Aber Widmark kreierte in seinem Filmdebüt eine Marke: Privat liberal, belesen und nachdenklich, avancierte er plötzlich zum neuen »schwarzen Mann«, mit dem Eltern ihren Kindern drohten – und dass er selbst noch ein Gesicht »wie ein geschrubbter Küchenfußboden« hatte, dürfte seine Wirkung nur erhöht haben. Der dauerquasselnde, kichernde, komplexbeladene Udo, Gegenspieler von Victor Mature, war ein Vorgriff auf diese modernen soziopathischen oder gar faschistischen Schurken, denen nur gründliche Analyse beikommt – Klaus Theweleits Studie über das »Lachen der Täter: Breivik et al« ist nicht so weit weg. Wenn Udo die Mutter eines angeblichen Verräters an ihren Rollstuhl fesselt und die Treppe hinunterwirft, scheint das einer der reinsten Akte von »gratuitous violence« zu sein, die das Kino je gezeigt hat. Aber man müsste wissen, wo und wie so etwas entsteht. Also ein Prequel. Tommy mit 3, 5, 12. Hatte er damals was zu lachen?
Sabine Horst

Agent Smith (»Matrix«, 1999) – Der Mann aus der Maschine

Agent Smith. Also Schmidt wie Meier. Unauffällig. Ein Name, unter dem man sich an der Hotelrezeption anonym einträgt. Eine Serienbezeichnung. Dazu Serienausstattung: dunkler Anzug, weißes Hemd, schwarze Sonnenbrille. Aus der Anonymität der Masse ist Agent Smith herausgetreten, als er in »Matrix« zum zentralen Antagonisten des Hackers Neo wurde, da erlangte er echtes Bösewichtformat. Hier der roboterhafte Hüter der Matrix-Ordnung. Dort der Mensch, der um seine Individualität kämpft. Paradoxerweise ist es Agent Smith, der von einem Schauspieler mit Widerhaken verkörpert wird, dem Australier Hugo Weaving, der immer etwas Finsteres durch seine kantigen Züge scheinen lässt. Anders als die Bond-Bösewichte strebt sein Smith nicht nach Reichtum und Macht, sondern allein nach der Auslöschung alles Menschlichen. Doch schon die Art, wie es ihn anwidert, macht ihn zu einer schillernden Figur, von der man gern mehr wissen, der man einen eigenen Film, eine eigene Serie zutrauen würde. Agent Smith ist eine Art Terminator des digitalen Zeitalters, doch Neo fordert ihn so spezifisch heraus, dass er gar nicht anders kann, als ebenfalls Abgründe zu entwickeln. Selbst hinter oder gerade wegen der Masse seiner Replikanten, die er nach seiner ersten Niederlage produziert, bleibt er eine zutiefst beunruhigende Figur, mit rund 480 Millionen Einträgen bei Google, sehr viel mehr als Neo/Matrix!
Anke Sterneborg

Schwester Ratched (»Einer flog über das Kuckucksnest«, 1975) – Teufel in Weiß

Das Bedrohlichste an Schwester Ratched ist ihre Ruhe. Diese Frau hat die stählerne Gelassenheit eines Menschen, der sich seiner Macht absolut gewiss ist. Die nervösen Ticks anderer Filmschurken überlässt sie ihren Patienten; wo der Joker ein theatralisches Grinsen aufsetzt, genügt ihr ein maliziöses Lächeln. An dieser Frau, die ihre schneeweiße Uniform wie die Rüstung eines Superschurken trägt, prallt alles ab. Der unnahbare Habitus und die Unantastbarkeit ihrer Autorität geben Schwester Ratched aber auch ein Geheimnis – wer und vor allem wie ist diese Frau wohl außerhalb der Klinikmauern? Man würde sie gern in ihrem zivilen Alltag beobachten, wo ihr Sozialverhalten allerdings auch grotesk wirken könnte – wie eine Variante von Jack Nicholsons pedantisch-neurotischem Menschenfeind in »Besser geht's nicht«. Man könnte aber auch eine Getriebene aus ihr machen, eine zutiefst unsichere Frau, die wie ihre Patienten an schweren Traumata leidet – in der Romanvorlage wird ihre Ausbildung bei der US-Army erwähnt. In der Fantasyserie »Once Upon a Time« und der Zombieserie »Z Nation« tauchte Schwester Ratched als eindimensional diabolische Nebenfigur auf. Aber gerade weil in Louise Fletchers Originalverkörperung die Grausamkeit so wohlmeinend daherkommt – glaubt sie womöglich ernsthaft, dass sie den Patienten Gutes tut? – wirkt ihr Charakter auf den zweiten Blick so komplex. Das dachte man sich offenbar auch bei Netflix: Dort startet Ende des Jahres die »Origin«-Serie »Ratched«.
Kai Mihm

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