Das Universum Charlotte

Ein bisschen Boheme. Und trotzdem zeitlos. Charlotte Gainsbourg im Close-up

Sie kommt aus einer typisch französischen Künstlerdynastie. Aber Charlotte Gainsbourg ist es gelungen, sich eine eigene Stellung im europäischen Arthousefilm zu erobern: furchtlos, vielseitig, hip und doch zeitlos. Jetzt ist sie in neuen Filmen von Benoît Jacquot und Wim Wenders zu sehen

Sie versteht es nicht, sich rar zu machen. Warum sollte sie auch? In gleich vier Filmen ist sie aktuell auf unseren Leinwänden zu sehen, ein fünfter, Every Thing Will be Fine, ihre erste Zusammenarbeit mit Wim Wenders, lief gerade im Wettbewerb der Berlinale. Ganz unterschiedlichen Figuren gibt sie in dieser Galerie von Filmen Ausdruck. In Missverstanden ist sie eine verächtliche Mutter. In Jacky im Königreich der Frauen spielt sie die – allerdings anfechtbar – lesbische Thronfolgerin in einem Matriarchat. In Heute bin ich Samba verkörpert sie eine Karrierefrau, die nach einem Burn-out Sozialdienst leistet. In BenoÎt Jacquots 3 Herzen schließlich ist sie in einen Mann verliebt, der ihre über alles geliebte Schwester heiratet.

»3 Herzen« (2014)  © Wild Bunch

Charlotte Gainsbourg, Tocher von Jane Birkin und Serge Gainsbourg, nimmt im französischen Kino einen Status ein, den sie allenfalls mit Kolleginnen wie Isabelle Huppert gemeinsam hat: Sie steht am Rande und mitten im Zentrum. Mit gleichem Elan dreht sie Autorenfilme und solche, die entschieden das Mainstreampublikum suchen. In unterschiedlichen Rollen erfüllt sie ihre Neugierde und die Lust an der Variation. Und doch sind diese Charaktere oft eng miteinander verbunden. Ihre Verwandtschaft besteht mitunter darin, dass sie unerwartet von der Liebe ergriffen werden. Zuweilen werden ihre Figuren auch mit ähnlichen Worten beschrieben. »Ich bin keine Frau wie die anderen«, sagt sie als die Colonelle in Jacky, als sie plötzlich Geschmack an einem Mann findet. Und in Heute bin ich Samba sagt der Titelheld zu ihr: »Sie sind schon etwas Besonderes.«

Mit diesen Worten lässt sich definieren, was einen Filmstar ausmacht. Aber braucht das Publikum sie tatsächlich, um sich daran zu erinnern, dass Charlotte Gainsbourg das gewisse Etwas besitzt, das sie dazu macht? Sie gleicht niemandem, dem wir sonst auf der Leinwand begegnen. In jede Rolle bringt sie ihre eigene Legende wie eine unsichtbare Grundierung ein. Ihr Gesicht ist unkonventionell, aber die Kamera liebt es. In ihm wirkt die Alchemie, die dem Antlitz eines Stars Unverwechselbarkeit verleiht und seinem Ausdruck Intensität und Lebendigkeit verleiht.  Man könnte sagen, das läge in der Familie. Aber das wäre allenfalls die halbe Wahrheit.

Ein inzestuöses Geschäft

Traditionell speiste sich das französische Kino aus zwei Quellen: Der Großteil seiner Darsteller kam vom Theater oder dem Varieté. Nach dem Krieg erweiterte sich das Spektrum, da war oft eine Karriere als Fotomodell und als Sänger oder Sängerin das Sprungbrett zum Film. Seit einigen Jahrzehnten gehören viele der markanten Gesichter des Kinos einer Kategorie an, die man in der Branche kurz ffd nennt: »fils ou fille de« – Sohn oder Tochter von. Claude Brasseur, der aus einer alten Schauspielerfamilie stammt, stand in den 60ern am Anfang dieser neuen Tradition, die heute eine heikle Selbstverständlichkeit hat.

Vincent Cassel ist der Sohn des großen Komödianten Jean-Pierre, Romane Bohringer ist die Tochter von Richard,  Eva Green die Tochter Marlène Joberts, Emmanuelle und Mathilde Seigner stammen aus einer Schauspielerdynastie, Louis Garrel kommt aus einer Familie von Schauspielern und Regisseuren, Léa Seydoux’ Großvater und Großonkel leiten die zwei größten Konzerne des französischen Kinos, Pathé und Gaumont.

Dieses Phänomen der eingebetteten Kindheit ist nicht exklusiv auf das Hexagon beschränkt – Asia Argento, die Regisseurin von Missverstanden, stammt aus einer Filmfamilie, Charlotte Gainsbourgs Partner Gabriel Garko ist der Sohn des früheren Westernstars Gianni – aber nirgendwo sonst wachsen so viele Schauspieler vor oder hinter der Kamera auf. Chiara Mastroianni hat im Heimatland ihrer Mutter Catherine Deneuve Karriere gemacht, nicht in dem ihres Vaters Marcello. Oft müssen sie nicht einmal Unterricht nehmen, sondern sind geborene Instinktschauspieler wie Gainsbourg.

»Every Thing will be fine« (2015)  © Warner Bros.

Auf die naheliegenden Fragen, die solche Dynastienbildung aufwirft – ist sie ein Zeichen von Nepotismus, bedeutet sie einen ungebührlichen Karrierevorsprung oder stellt sie eine Hypothek dar, ist Talent vererbbar? –, liefert Gainsbourg die zweifellos interessantesten Antworten. Ihre Herkunft ist glamourös und skandalträchtig: Die stürmische Beziehung ihrer Eltern hielt die Klatschpresse über Jahrzehnte in Atem. Deren Legende lässt sich nicht trennen von ihren Anfängen. Das Chanson »Lemon Incest«, das Charlotte im Duett mit ihrem Vater Serge sang, löste Begeisterung und Empörung aus; die erotischen Fantasien, die ihr Vater mit ihr in seiner Regiearbeit Charlotte for Ever inszenierte, nur noch Letzteres. Beinahe hätte sie 1984, kaum 13-jährig, in Die Piratin debütiert, den Jane Birkins damaliger Lebensgefährte Jacques Doillon drehte und in dem Jane und ihr Bruder Andrew Birkin ein Ehepaar spielen, zwischen das sich ein junges Mädchen drängt. »Das alles war schon inzestuös genug«, nannte Charlotte später als Grund dafür, die Rolle abzulehnen.

Zum ersten Mal vor der Kamera stand sie dann in der unverfänglicheren Komödie Duett zu dritt – als Tochter von Catherine Deneuve, der sie in 3 Herzen in der gleichen Konstellation wiederbegegnet – und schaffte ihren Durchbruch 1985 in der auf traditionellere Weise provozierenden Titelrolle in Das freche Mädchen. Es war eine interessante Arbeitsteilung, mit der ihre Eltern über die Anfänge ihrer Karriere wachten: Claude Miller holte sich von ihrer Mutter die Erlaubnis, sie zu besetzen; bei allen strittigen Drehbuchfragen (es gab beispielsweise eine Masturbationsszene, die später herausgeschnitten wurde) musste er die Zustimmung des Vaters einholen. Charlotte war zu allem bereit, was Papa ihr erlaubte.

»Die kleine Diebin« (1988)  © Tobis

Miller war erstaunt über ihre Folgsamkeit. Die einzige Schauspielerin, die noch weniger Fragen stellte als sie, erinnerte er sich später, war Julie, die Tochter von Gérard Depardieu. Noch mehr verblüffte ihn bei ihrem nächsten gemeinsamen Film Die kleine Diebin ihre Weigerung, ein Urteil über ihre Figuren zu fällen. Gainsbourgs Herkunft war ein Mandat und zugleich eine Weichenstellung: Sie erweckt den Eindruck einer furchtlosen, risikofreudigen Schauspielerin, die weder vor versponnenen, bizarren Projekten, die die Konventionen gegen den Strich bürsten, noch vor menschlichen Abgründen zurückschreckt. Der Zementgarten, in dem sie unter der Regie ihres Onkels Andrew Birkin spielt, besiegelt diese Legende. Obwohl der von der Werbung als »Inzest-Thriller« annoncierte Film auf einem Roman von Ian McEwan beruht, behauptete der Regisseur, eigene Erfahrungen mit seiner Schwester verarbeitet zu haben. Gainsbourg fordert ihren jüngeren Bruder heraus, sie gibt sich entschieden aufreizend, und der in der letzten Szene vollzogene Inzest wirkt wie eine Bestimmung, die sich endlich erfüllt. Die Atmosphäre weist übrigens auf Die Träumer mit den ffd Eva Green und Louis Garrel voraus.

Der Clara-Bauman-Effekt

Bei der Arbeit mit Kinderdarstellern achten Regisseure oft darauf, dass deren Vornamen mit denen ihrer Rollen übereinstimmen. So fällt es ihnen leichter, sich mit der Figur zu identifizieren, sie dürfen sich angesprochen, gemeint fühlen. Gainsbourg war kein Kind mehr, als ihre Filmlaufbahn begann. Dennoch heißen viele ihrer frühen Figuren Charlotte. Auch 2001 ist das in Meine Frau, die Schauspielerin der Fall. Dort spielt sie unter der Regie ihres Ehemannes Yvan Attal einen Filmstar, dessen fiktiver Gatte (gespielt von Attal, dessen Figur auch Yvan heißt) eifersüchtig auf ihre Partner in Liebesszenen ist. Die Dreharbeiten ihres aktuellen Films finden in London statt, was eine hübsche biografische Resonanz besitzt, da dort die Karriere ihrer Mutter begann und dort Charlotte geboren wurde. Dieser Spiegeleffekt verstärkt den Eindruck, der Zuschauer wäre auf der Leinwand seit Jahrzehnten der Zeuge einer imaginären Autobiografie der Schauspielerin. In Grosse Fatigue von Michel Blanc tritt Gainsbourg gar als sie selbst auf. Auch wenn ihre Figuren andere Vornamen tragen, scheint doch stets Charlotte mit ihnen gemeint zu sein.

»Meine Frau die Schauspielerin« (2001)  © Concorde

Was Starruhm bedeuten kann und wie er auf andere wirkt, führt bereits Das freche Mädchen vor. Darin ist Charlotte von einer gleichaltrigen Pianistin namens Clara Bauman fasziniert, ist geradezu vernarrt in sie. Mit dem Film wurde Gainsbourg selbst zu einem Idol ihrer Generation. Mit Ringelpulli und Jeans wurde sie fast zu einer Modeikone; es schadete nichts, dass im Film über ihre Heuschreckenbeine gespottet wird. Als Claude Miller einmal mit Romane Bohringer drehte, sagte sie zu ihm: »Charlotte ist meine Clara Bauman!«

Gainsbourg ist ein ungewöhnliches und doch triftiges Objekt der Fantasien. Sie ist glaubhaft als Filmstar in Meine Frau, die Schauspielerin. Dort behauptet sie zwar pflichtschuldig, so zu sein wie jeder andere. Aber das Publikum weiß es besser. Die Aura des Ungewöhnlichen, des Außerordentlichen umgibt sie selbst in kleineren Rollen wie der einer Engländerin in Golden Door, deren geheimnisvolles Schicksal die anderen Einwandererfamilien auf dem Weg nach Amerika fasziniert. In Michel Gondrys Anleitung zum Träumen wirkt sie selbst als Mädchen von nebenan in Jeans und schluffigem Parka glamourös. Ihre Figur ist nicht greifbar zwischen Traum und Wirklichkeit, an ihr entzünden sich Fantasien, die zwischen Nähe und Ferne schillern.

»Jacky im Königreich der Frauen« (2013)  © Pandastorm

Ist ihre Erscheinung androgyn? Das galt nicht einmal für ihre Mutter, die sich selbst als unwahrscheinliches Gegenbild Brigitte Bardots im Leben Serge Gainsbourgs und der öffentlichen Wahrnehmung fühlte, halb als Frau und halb als Junge. Charlottes Rolle in Jacky im Königreich der Frauen spielt mit einer solchen erotischen Vieldeutigkeit. Mit Charlottes nacktem Körper ist das Publikum ebenso vertraut, wie es das Publikum ein, zwei Generationen vorher mit dem Jane Birkins war. Der gleichsam körperlosen Dürre der Tochter fehlt es nicht an erotischer Anmutung. »Ich mag deine Möpse«, sagt ihr Nachbar einmal zu ihr in Anleitung zum Träumen, »sie sind freundlich und bescheiden.« Gainsbourgs Körper ist ein Blickfang in vielen Filmen, entspricht keinem eventuellen Exhibitionismus der Darstellerin, sondern gehört zur Herausforderung der Rollen. Bei Lars von Trier, in Antichrist und Nymphomaniac, wirkt ihr Leib fast zeichenhaft, im zweiten fungiert er geradezu als Messinstrument in den Begegnungen Joes, die sich zur morphologischen Studie eines modernen Eros summieren sollen.

»Nymphomaniac Vol. II« (2014)  © Concorde

Sie unbekleidet zu sehen, stellt noch keine Intimität zwischen Schauspielerin und Zuschauer her. Gainsbourgs Nacktheit ist vielmehr das Instrument vielfacher Seelenerforschungen. Ihre Figuren sind oft durch alle Verrücktheiten der Liebe gegangen, sie wissen, dass das nie ohne Schmerz vor sich geht. Das tun sie, wie 3 Herzen demonstriert, noch heute mit unvermindertem Erlebnishunger. Ihr Körper verweist einerseits auf eine Mädchenhaftigkeit, in der sie und ihre Figuren lange Zeit gefangen zu sein scheinen. Zugleich überspringt er die Lebensalter. Ihre Erscheinung besitzt eine heroische Zeitlosigkeit. Ihre Stimme ist leise und bisweilen brüchtig, Entschiedenheit und Lebenserfahrung können dennoch aus ihr klingen. Sie kann auch heute noch glaubhaft burschikos sein, ist als Backfisch ebenso überzeugend wie als Dame. In Melancholia besitzen ihre Züge mondäne Eleganz und Strenge, ohne dass sie sich gegenüber einem Film wesentlich verändert haben, in dem sie vor ein, zwei Jahrzehnten auftrat.  

Filmische Familienfotos

»Findest Du nicht auch, dass das Leben so Brüche hat?«, fragt Charlotte in Das freche Mädchen ihren Vater und fügt hinzu, dass ihr diese Brüche Angst machen. Diese Angst zieht sich als Leitmotiv durch viele Rollen. Im Verlauf von Gainsbourgs Karriere hingegen treten sie nicht abrupt auf den Plan. Sie folgt einer fließenden Bewegung. In einem Moment, sagen wir im Jahr 2001 in Patrice Lecontes Félix et Lola, hat man noch Angst, sie könne aus dem Fach der Kindfrau nicht herauswachsen. Und im nächsten, wiederum 2001, führt sie in Meine Frau, die Schauspielerin vor, dass sie sehr wohl eine Erwachsenen-Persona auf der Leinwand entwickelt hat. 

»Melancholia« (2011)  © Concorde

Wenn eine Schauspielerin so kontinuierlich arbeitet wie sie, bekommt der Zuschauer auf Anhieb gar nicht mit, wie sich ihre Rollenfächer wandeln. Man begleitet einander, die Vertrautheit blendet. Man ist überrascht, wenn dieses Gegenüber auf der Leinwand mit einem Mal Mütter spielt. »Ich habe alles Gefühl für die Zeit verloren«, sagt sie als ältere Schwester vor dem Inzest in Der Zementgarten, »es kommt mir vor, als sei es immer so gewesen.« Die Unentrinnbarkeit der Kindheit dementiert der Film jedoch. In dieser Rolle muss sie nach dem Tod des Vaters die Aufsicht über ihre kleineren Geschwister übernehmen. Ihre Mutter fällt in Depressionen und stirbt ebenfalls. Den Familienzusammenhalt berührt das nicht wesentlich. In Julie Bertuccellis The Tree (2010) hingegen spielt Gainsbourg eine Witwe, die nach dem Tod ihres Mannes aus der Mutterrolle desertiert und sich tagelang nicht aus dem Bett bewegt. Sie ist ihren Kindern kein Vorbild dafür, wie sie mit der Trauer umgehen können. Gainsbourgs Karriere ist voll von solchen Spiegel­effekten. Es werden noch weitere hinzukommen.

Wie man sein Leben und das einer Familie nach einem Verlust rekonstruiert, ist das Drama vieler Figuren, die sie heute spielt. Angeblich zieht Gainsbourg sich an jedem Todestag ihres Vaters in ein Hotelzimmer zurück. Das ist sicher eine Legende. Denn eigentlich erzählt ihre Kinolaufbahn davon, wie man aus dem Schatten tritt, ohne ihn ganz verschwinden zu lassen. Womöglich stand am Anfang die Hypothek von Skandal und Zerrissenheit. Wer sich auf so viele erzählerische Abgründe einlässt wie sie, wird schon ein sehr gesunder, stabiler Charakter sein. Gainsbourg hat nie nach einer festen Filmfamilie gesucht, kaum je mehr als einen Film mit einem Regisseur gedreht. Wie jeder große Filmstar gehört sie keinem Universum dauerhaft an, das ein Filmemacher schafft, sondern vor allem ihrem eigenen.

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