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Day-and-Date-Release als Rettung der kleinen Filme?
»Love Steaks« (2013)

Foto: © daredo media

Filme zeitgleich im Kino, auf DVD und im Netz herausbringen? Das nennt man Day-and-Date-Release, und manche halten es für die Rettung der kleinen Filme, der Independents. Eine Recherche

Jakob Lass hatte Love Steaks, seinen »Mitte des Studiums«-Film an der HFF Potsdam, nicht zuletzt deshalb ohne Fördergelder gedreht, weil ihn der Bewilligungsprozess zu viel Zeit gekostet hätte. Nach dem Filmfest München im Sommer 2013, wo Love Steaks vier Preise gewann, war der Regisseur damit in der einmaligen Position, einen potenziell erfolgreichen deutschen Film in der Tasche zu haben, der in der Distribution an keine gesetzlichen Vorgaben gebunden war. »Es haben sich einige große Verleiher für den Film interessiert«, sagt Lass, »aber wir haben gedacht: Wir nutzen die Gelegenheit und bringen den Film selbst raus.« Love Steaks startete im März 2014 deutschlandweit mit 33 (digitalen) Kopien im Kino. Ursprünglich wollte Jakob Lass aber viel weiter gehen. Sein Plan war es, den Film mit dem Kinostart im Internet abrufbar zu machen.

In Paragraf 20 des deutschen Filmförderungsgesetzes ist glasklar festgeschrieben, wie ein Film in Deutschland ausgewertet werden muss, zumindest wenn er irgendwie mit Fördergeldern in Berührung gekommen ist. Nach dem Kinostart müssen sechs Monate vergehen, bevor der Film auf Heimvideomedien wie DVD verfügbar gemacht werden darf. Nach weiteren sechs Monaten darf er im Pay-TV laufen und wiederum sechs Monate später im frei empfangbaren Fernsehen. In Ausnahmefällen können diese »Fenster« verkürzt werden. Aber auf jeden Fall gilt: Kommt ein geförderter Film ins Kino, läuft er dort zunächst exklusiv. Für Filme, die nicht gefördert wurden, gilt die Regel streng genommen nicht. Aber die Filmtheater- und Verleiherverbände in Deutschland  halten sich in einer Art Gentlemen’s Agreement trotzdem dran.

© daredo media

Ähnliche Fensterregelungen gibt es in fast allen Filmmärkten der Welt. In den USA etwa gehört ein Film den Kinos in der Regel 90 Tage lang alleine. Vor zehn Jahren waren es auch hier noch sechs Monate. Aus der Verkürzung der Fenster spricht eine generelle Veränderung der Filmauswertung. Ein Film wie Star Wars startete 1977 in den USA noch mit 30 Kopien, wurde später auf 200 Kopien ausgeweitet und hatte Monate Zeit, zu einem der ersten modernen Blockbuster zu werden. Heute wird das meiste Geld mit einem Film auf DVD und Blu-Ray verdient. Das Kino dient hauptsächlich als Anschubfinanzierung und um Aufmerksamkeit für den Film zu generieren. Die Folge: Marketingaktivitäten und finanzielle Erwartungen konzentrieren sich auf das Startwochenende, und nach wenigen Wochen ist der Film aus den Kinos verschwunden. »Schläfer«-Hits, die sich durch Mundpropaganda zum Erfolg mausern, gibt es nur noch sehr selten.

Filmemacher und -manager versuchen daher seit einigen Jahren, andere Wege zu finden, um gerade kleinere Filme effektiver auszuwerten. Im Mittelpunkt steht dabei die Idee, die auch Jakob Lass mit Love Steaks hatte und die sich im Branchensprech »Day-and-Date« Verleih nennt: Der Film bekommt einen »ordentlichen« kleinen Kinostart, wie er ihn verdient hat. Zugleich bietet man allen, die nicht in der Nähe eines großen Programmkinos wohnen, die Gelegenheit, den Film als Video-on-Demand (VOD) im Web und auf dem Smart-TV zu sehen. Der Verleih profitiert, weil er den Film nur einmal bewerben muss. Die Zuschauer profitieren, weil sie einen Film, von dem sie hören, sofort gucken können (und ihn nicht vergessen, bis er endlich in ihrer Stadt läuft oder auf DVD erscheint). Wer nicht profitiert, zumindest sind sie davon überzeugt, sind die Kinos.

Der Plan der Love Steaks-Macher war daher von Anfang an, die Kinos bei der Internet-Auswertung ihres Films ins Boot zu holen. Love Steaks sollte ein Experiment werden, »wie wir uns wünschen, wie man heute Filme gucken können sollte«, sagt Lass. Ihren Dozenten für Produktion an der HFF, Martin Hagemann, hatten sie auf ihrer Seite. Er traf sich mit den Kinoverbänden und stellte das Modell der Filmemacher vor. Die Firma Daredo aus Mannheim würde mit einer »Cine Stream« getauften Technik den Film auf den Webseiten der Kinos zur Verfügung stellen. Das Schauen des Films im Netz würde ähnlich viel kosten wie eine Kinokarte, und die Kinos würden einen ähnlich hohen Anteil an den Einnahmen erhalten. Begleitet werden sollte das Pilotprojekt von wissenschaftlichen Studien. Die Kinoverbände waren skeptisch, sagt Hagemann, entschieden sich aber, mitzumachen. Ein Partner aus der Kinobranche begann mit der Akquise von Filmtheatern, die bereit waren, das Experiment zu wagen. Er fand rund 20, die Interesse hatten. Eine Pressekonferenz wurde geplant.

© Koch Media

Day-and-Date-Distribution wirkt auf den ersten Blick wie eine prima Sache und eine logische Folge des »Alles, immer, überall«-Zeitalters. In den USA feiern einige Filmemacher das Prinzip als die »Rettung des Independentkinos«. Schon Steven Soderbergh versuchte 2005, seinen Film Bubble gleichzeitig in allen Medien zu veröffentlichen, doch als Paradebeispiel für den Erfolg des Rezepts gilt Margin Call – Der große Crash, der 2011 zur selben Zeit ins Kino und ins Internet kam. Entgegen der Erwartungen kannibalisierten sich die Distributionswege nicht, sondern befeuerten einander sogar – anderen Indie-Filmen ging es ähnlich. Im Frühjahr dieses Jahres traute sich ein großes Studio, einen Film per Day-and-Date zu veröffentlichen. Warner startete Veronica Mars gleichzeitig im Kino, auf iTunes, Amazon und Co.

Doch genaueres Hinsehen lohnt sich. Die Firma »2929« etwa, die den erfolgreichen Day-and-Date Player Magnolia Pictures besitzt, ist auch Mutter der landesweiten Arthouse-Kinokette Landmark Theatres. Wenn Landmark-Kinos einen Film trotz der Fenster-Umgehung zeigen, kommen andere Kinos in Zugzwang und nehmen ihn zähneknirschend ebenfalls ins Programm. Veronica Mars hingegen wurde durch Crowdfunding finanziert. Die Unterstützer des Projekts hatten ein Anrecht darauf, »ihren« Film am Starttag zu ordern.

Zudem spiegelt sich auch im VOD-Markt das Hauptproblem der heutigen Kinolandschaft: Es gibt zu viele Filme, die um die Aufmerksamkeit des Zuschauers buhlen. Ganz so einfach ist die Rechnung also nicht. Das meint auch Christian Bräuer, nach dessen Ansicht die Debatte ein »Ablenkungsmanöver« ist, das auf dem Rücken der Kinos ausgetragen wird. Bräuer ist Vorstandsvorsitzender des Programmkinoverbandes AG Kino – Gilde. »Wer Kinofilme fördern will, muss Kinos fördern«, sagt er. Kinos schafften Aufmerksamkeit für Filme und seien kulturelle und soziale Orte – auch »on demand« funktioniere am besten, was vorher erfolgreich im Kino lief. Dem Thema Day-and-Date steht er kritisch gegenüber, weil die Kinos, besonders die kleineren, das gesamte wirtschaftliche Risiko trügen. Bräuer meint auch, ohne Kinos würde es weniger gute Filme geben. Wer Day-and-Date fördere, spiele nur US-Konzernen wie Netflix und Amazon in die Hände. Netflix-Programmdirektor Ted Sarandos poltert auf Tagungen dagegen, die Filmtheater würden mit ihrer rückständigen Haltung das Kino kaputt machen.

Auch in der Geschichte von Love Steaks spielt die AG Kino – Gilde eine Rolle. Martin Hagemann zufolge riet der Verband kurz vor der angesetzen Pressekonferenz seinen Mitgliedern davon ab, es mit dem Cinestream-Modell zu versuchen. Hagemann und sein HFF-Kollege Jürgen Fabritius wurden bei Branchentreffs persönlich von Kinomachern angegriffen, sie würden einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen. Wenn nur ein Kino bei »Cinestream« mitmache, würde vonseiten des Verbands dafür gesorgt, dass Love Steaks in keinem anderen Kino läuft.

Christian Bräuer bestreitet, dass die AG Kino – Gilde Druck auf ihre Mitglieder ausgeübt habe. Er bezweifelt auch, dass es 20 Kinos gegeben habe, die zu dem VOD-Versuch bereit gewesen seien. Das Team hinter Love Steaks jedenfalls entschied sich für eine reguläre Kinoauswertung. »Wir wollten den Film nicht zu einem Politikum machen«, sagt Jakob Lass. Er bleibt aber bei seiner Überzeugung, dass die Kinos jetzt handeln müssen: »Noch ist Zeit, sich zu überlegen, wie sie am Prozess beteiligt werden können.« Seiner Meinung nach vor allem als kompetente Kuratierer, als Fachleute für gute Filme mit der seit über 100 Jahren etablierten Marke Kino.

Diese Meinung teilt Thorsten Hennig-Thurau. Der Marketingwissenschaftler an der Uni Münster forscht seit fast zehn Jahren zu innovativen Distributionsmodellen. »Deutschland ist das letzte Land, in dem in dieser Hinsicht etwas passieren wird«, sagt er. Filmförderung, Verleih und Kinoverbände bildeten bei uns eine enge, weitgehend unbewegliche Allianz, die die Entwicklung aber auf lange Sicht nicht aufhalten könne. »Irgendwann wird sie über uns kommen und zwar mit Gewalt«, sagt er, »und das wird den Kinos dann sehr wehtun, wenn sie sich weiterhin jeder Modernisierung verweigern.«

Obwohl er 2007 mit einer Studie für Furore sorgte, die den »Gebt den Zuschauern was sie wollen, wann sie es wollen«-Befürwortern recht zu geben schien, hält auch Hennig-Thurau Day-and-Date nicht für ein Allheilmittel. »Es gibt jede Menge Risiken, es ist hochkomplex, und die amerikanischen Studios trivialisieren Risiken und Komplexität«, sagt er. Eins jedoch sei klar: Am Ende gewinne der Stärkere, und das seien im Zweifel nicht die Kinos. »Die Branche sollte sich zumindest schlau machen, ob es was bringt.«

© Senator

Tatsächlich drängen auch die großen deutschen Verleiher derzeit nicht besonders stark auf Modelle wie Day-and-Date oder gar Day-before-Date, bei dem der Film als VOD erscheint und kurz danach ins Kino kommt. Der Filmverleih Senator etwa hat sich entschieden, Jonathan Glazers Under the Skin, in dem Scarlett Johansson als Alien-Frau Männern auflauert, direkt auf DVD auszuwerten (VÖ 10.10.14) – wogegen Protestgruppen im Internet Sturm liefen. Wäre Under the Skin nicht ein idealer Kandidat für Day-and-Date gewesen, der Cineasten und Heimvideomarkt gleichzeitig zufriedenstellt? Senator-Geschäftsführer Peter Heinzemann sagt Nein. Der VOD-Umsatzanteil sei derzeit zu gering. »Wenn wir es irgendwann versuchen, muss das ein Film sein, bei dem es sich für uns wirtschaftlich lohnt.« Er würde sich aber auch nicht gegen die Entwicklung wehren. Es könnte sich schon bald einiges ändern. Etwa wenn der US-Streamingriese Netflix im Herbst auf den deutschen Markt drängt.

HFF-Dozent Hagemann findet klare Worte: »Wir können uns nicht erlauben, wie das Kaninchen vor der Schlange zu sitzen.« Sogar AG-Kino-Gilde-Mann Christian Bräuer meint, dass jeder Kinobetreiber grundsätzlich ein Interesse daran haben sollte, dass VOD funktioniert. Vielleicht werde es sogar demnächst Testläufe geben, aber »man kann sein Geschäftsmodell nicht einfach über den Haufen werfen«. Bräuer verweist auf eine Studie über neue Vertriebsstrategien des EU-Programms »Media«, die gerade in Cannes vorgestellt wurde. Drei geförderte Projekte testeten darin unter anderem 39 Day-and-Date-Filmstarts in 15 Auswertungsgebieten. Das Fazit: Bis zu 180 Prozent mehr Zuschauer und eine bessere Vorbereitung der Beteiligten auf die Veränderungen des Marktes. Überzeugt ist Bräuer von den Ergebnissen trotzdem nicht. Hagemann dagegen sieht in ihnen eine Bestätigung der deutschen Blockadepolitik. Schließlich, meint er, habe hier niemand auch nur einen Förderantrag bei der EU gestellt.

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