Netflix: »Train Dreams«

englisch © Netflix

Wenn von den großen Netflixfilmen die Rede ist, die der Streamingdienst im Herbst ausnahmsweise auch mal kurz in die Kinos bringt, um sich im Rennen um die Oscars und andere Filmpreise zu positionieren, denkt man meistens an teure Werke berühmter Regisseur*innen. Doch in diesem Jahr ist der gelungenste und bemerkenswerteste dieser Filme eine kleine Independent-Produktion, die Netflix erst nach der Weltpremiere beim Festival in Sundance erwarb – und damit jenseits aller Algorithmusüberlegungen exzellenten Geschmack bewies. »Train Dreams« ist der neue Film von Clint Bentley, dessen Regiedebüt »Jockey« vor einigen Jahren sträflich wenig beachtet wurde, bevor er zuletzt als einer der Autoren für den oscarnominierten »Sing Sing« verantwortlich zeichnete. Mit seinem dortigen Mitstreiter Greg Kwedar hat er sich nun abermals zusammengetan und Denis Johnsons auch in Deutschland erschienene Novelle »Train Dreams« adaptiert.

Von seiner Kindheit Anfang des 20. Jahrhunderts an, in der er als Waise per Zug im ländlichen Idaho ankommt, begleitet der Film das Leben von Robert Grainier (Joel Edgerton). Während sich die Industrialisierung der USA zusehends gen Westen entwickelt, findet er als Erwachsener immer wieder wochen- und monatsweise Arbeit fernab von zu Hause, beim Bau neuer Eisenbahnstrecken und als Holzfäller. Harte körperliche Arbeit, die flüchtige Verbundenheit mit oft ähnlich wortkargen Männern und die dauerhafte, nie ganz abzuschüttelnde Präsenz des Todes sind auf Montage seine ständigen Begleiter. Ein Gegengewicht findet Robert in seiner Liebe zur patenten Gladys (Felicity Jones), mit der er sich eine schlichte Holzhütte baut und eine Tochter bekommt, bevor das Schicksal dem kurzen Glück ein jähes Ende bereitet und ihn einsamer zurücklässt als je zuvor.

So linear »Train Dreams« erzählt ist und sich an der Biografie des Protagonisten entlanghangelt, so wenig plotgetrieben ist der Film. Vielmehr ist er eine Art Flickenteppich aus immer wieder aufflackernden Erinnerungen und vor allem einzelnen Begegnungen. Diese sind oft flüchtig, hinterlassen aber bleibenden Eindruck auf Robert, sei es mit dem erfahrenen Saisonarbeiter Arn (William H. Macy), der aus Europa kommenden Forstwirtschaftlerin Claire (Kerry Condon) oder dem indigenen, ihm freundschaftlich verbundenen Ladenbesitzer Ignatius (Nathaniel Arcand). Zusammengehalten wird das Ganze von einem besonnenen Erzähler aus dem Off, dem im Original Will Patton seine Stimme leiht. Was anderswo oft bemüht oder redundant wirkt, verleiht »Train Dreams« einen zarten poetischen Anstrich; nicht zuletzt, weil so die eindrucksvollen Worte aus Johnsons Vorlage ihren Weg in den Film finden.

Zurückhaltung und Bescheidenheit sind in Bentleys tief berührender Arbeit an allen Fronten angesagt. Auch thematisch, wenn es darum geht, nebenbei ein Bild zu zeichnen sowohl von der Geschichte der ersten zwei Drittel des 20. Jahrhunderts als auch von Fortschritt und Veränderung, denen Robert nie ablehnend, aber doch einigermaßen hilflos gegenübersteht. Mal kommt plötzlich eine Motorsäge zum Einsatz, gegen Ende flimmert die Mondlandung über einen Fernsehbildschirm – viel mehr braucht es selten. Edgerton spielt diesen Mann, der stets und letztlich doch vergeblich versucht, sich einen Reim auf den Sinn seines Lebens zu machen, so zurückgenommen, aber doch eindrücklich, dass man geneigt ist zu sagen: So gut war er noch nie.

Von geradezu majestätischer Schönheit sind derweil die Bilder, die Kameramann Adolpho Veloso vom pazifischen Nordwesten einfängt. Angesichts von so viel Schwelgen in der Natur zog manche Kritik schon Terrence Malick als Vergleich heran, doch »Train Dreams« ist in seiner Wirkung bodenständiger und womöglich näher dran an »First Cow« oder anderen Arbeiten von Kelly Reichardt. In jedem Fall beeindruckt die Abwesenheit von Kitsch und Nostalgie. Bentley gelingt ein geradezu transzendentaler Film, der flüstert, statt zu schreien, und einen trotzdem komplett umhaut.

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