Gruppenbild mit Leiche: Murder Mysterys
»Knives Out 3: Wake Up Dead Man« (2025). © John Wilson / Netflix
Manche Dinge kommen nie aus der Mode. Zum Beispiel klassische Ensemblekrimis zum Mitraten, die oft in geschlossenen Räumen spielen. Perfekt fürs Familientreffen zu Weihnachten. Birgit Roschy begibt sich auf den Nostalgie-Trip
»The same procedure as every year, James!« Man weiß nicht, wie viele Zuschauer auch zu diesem Silvester voller Vorfreude auf die abschließende Pointe im deutsch-britischen Sketch »Dinner for One« warten. Immerhin aber wird dieser gespielte Witz in Schwarz-Weiß, in dem zwei alte Menschen, Miss Sophie und ihr Butler James, in aufreizender Langsamkeit den 90. Geburtstag von Miss Sophie begehen, im deutschen Fernsehen seit 1972 zum Jahreswechsel wiederaufgetischt. Dass man erschöpfende Kenntnis des Handlungsverlaufs hat und die Dialoge überdies mitsingen und -beten kann, ist der eigentliche Spaß. Das »Dinner for One«-Phänomen erklärt, vielleicht, warum auch Traditionskrimis so angesagt sind in jenem schwarzen Loch, in das wir zwischen Heiligabend und Neujahr abtauchen.
Denn auch für ein klassisches Murder Mystery scheint es in dieser merkwürdigen Auszeit »zwischen den Jahren« eine Mindestbedingung zu sein, dass es geruhsam und altmodisch angelsächsisch zugehen muss. Oder, wie es heutzutage heißt, old school. Also an Weihnachten keine Filmkunst. Kein lärmender CGI-Thriller, in dem die Frage whodunit? weniger wichtig ist als die Demonstration von Gewalt & Action & Computerhexenwerk, und keine Politik. Und erst recht kein Tatort mit streng blickenden Teutonen-Kommissarinnen. Ausgesprochen nostalgieselig ist etwa die ARD, die am 22.11. (anschließend in der Mediathek) mit »Tödliches Spiel – Das Live-Krimi-Dinner« einen interaktiven Krimi anrichtet. Er ist nach klassischem Muster inszeniert, mit einem Schloss als Tatort, der Geburtstagsfeier eines reichen Unternehmers, illustren Gästen und einem Mord. Die Zuschauer können telefonisch über das whodunit abstimmen, und auch die Darsteller kennen angeblich nicht die ganze Geschichte. Das starbesetzte Krimiquiz ist ein Aufguss der Serie »Dem Täter auf der Spur« (1967–1973), deren Vorbild wiederum die Kurzserie »Inspektor Hornleigh greift ein …« (1961) war. Wer immer hier der Täter ist: Auch über diesem Treffen schwebt der Geist von Agatha Christie.
Zwar war die legendäre englische Krimiautorin nie völlig außer Mode. Doch in der aktuellen filmischen Nostalgiewelle mit ihrem Recycling bewährter Familienunterhaltung wird ihr Werk erneut nach oben gespült. Angefacht hat das Interesse ausgerechnet »Star Wars«-Regisseur Rian Johnson, der sich mit »Knives Out: Mord ist Familiensache« 2019 einen ultranostalgischen Ensemblekrimi gönnte. Nach bewährtem Rezept: prächtig verwinkeltes Anwesen, Geburtstag eines ungeliebten Familienpatriarchen, Gäste, Hausangestellte, ein Mord, ein Meisterdetektiv, eine hübsch langsam servierte Aufklärung; dazu ein Promi-Ensemble mit »James Bond« Daniel Craig an der Spitze. Dass sich dieser Krimi alten Schlags vom sleeper zum Kassenhit entwickelte, war dennoch eine Überraschung. Denn eine weitere hochklassige Agatha-Christie-Verfilmung, »Crooked House«, hatte sich 2017 trotz Glenn Close und Terence Stamp als kommerzieller Flop erwiesen – möglicherweise wegen schlechten Timings. Denn vielleicht verdankt sich der »Knives Out«-Erfolg der filmischen Analogie zur realen Situation des häuslichen Eingesperrtseins, lief der Film doch mitten im Corona-Winter 2020 an.
Nun herrschen an den Weihnachtsfeiertagen vielerorts dieselben Bedingungen wie im huis clos, im geschlossenen Raum eines Agatha-Christie-Krimis. Es trifft sich nicht nur die erweiterte Familie; oft steht sogar tagelanges Zusammenglucken auf dem Programm. Draußen ist es dunkel und ungemütlich, das Ausführen des Hundes der einzige Zwang zum Luftschnappen. Es wird beschert, gegessen, getrunken und geredet. Das Weihnachtsfest ist auch ein berüchtigtes Treibhaus der Gefühle, in dem irgendwann der Onkel seine politische Meinung kundtut und der ganze Clan zu streiten beginnt. Zur Ablenkung helfen Brettspiele. Und das Detektiv-Ratespiel »Cluedo« – tatsächlich wurde dieses Spiel 1985 in »Alle Mörder sind schon da« mit vier verschiedenen Enden, verteilt auf willkürlich ausgewählte Kinos, verfilmt – ist dazu viel besser geeignet als etwa »Monopoly«. Dieses teuflische »Gier ist geil«-Spiel provoziert ernste Zerwürfnisse, würfelt sich doch derjenige, der auch in der Realität ständig pleite ist, schicksalhaft zur Schlossallee, auf die der Banker der Familie zwei Hotelfallen gestellt hat.
Das Pendant zu »Cluedo« ist ein schön betulicher Fernsehkrimi, allein oder zusammen im Vanillekipferl-Zuckerkoma auf dem Sofa liegend anzusehen. Das Murder Mystery sollte gerade aufregend genug sein, um zum gemeinsamen Miträtseln zu animieren, jedoch insgesamt beruhigend erwartbar sein – und, da im Krimi meist die Kapitalisten die Schurken sind, auch tröstend. Diese simple Vorgabe wird jedoch in neueren Krimis, die der großen Agatha nacheifern, nur selten zufriedenstellend erfüllt. Bereits in der Fortsetzung »Glass Onion: A Knives Out Mystery« (2022, ebenfalls Netflix) wird zwar mit einem Wochenende auf einer einsamen Insel die klaustrophobische Atmosphäre eines Krimikammerspiels nachempfunden. Doch die starbesetzte Story ist so schrill und überladen, die Gäste – Influencer, Männerrechtler, Hightechmilliardäre – sind so beflissen auf Zeitgeist gebürstet, dass der faule Zauber bald ermüdet. Zumal dem ratewilligen Zuschauer Informationen fehlen, die erst im Countdown zur Auflösung in verwickelten Rückblenden enthüllt werden.
Abtörnend auch der Netflix-Krimi »The Woman in Cabin 10« (2025), wo erneut ein Milliardär einlädt, diesmal auf eine Jacht im norwegischen Fjord, und Keira Knightley als Journalistin und Amateurdetektivin wirkt. Die nebenbei von Hitchcock inspirierte Handlung nervt nicht nur mit Drehbuchlücken, durch die Hannibal seine Elefanten treiben könnte. Wie mit der Dachlatte bekommt man politische Botschaften übergebraten. Wir erinnern uns: an Weihnachten kein Extra-Stress. Diese Geschichte aber bedeutet Ärger mit dem Onkel.
Ungefährlich geht es dagegen im Netflix-Krimi »The Thursday Murder Club« (2025), angesiedelt in einer englischen Seniorenresidenz mit Park, Blümchentapete und five o'clock tea, zu. Vier ausgeruhte Bewohner betreiben als Hobby das Aufdecken von cold cases, ungelösten Mordfällen. Angenehm marpleesk ist der ständige Kleinkrieg mit dem Kommissar, dem die Senioren stets einen Schritt voraus sind. Neben der Ausstattung erfreut der Anblick gestandener Schauspieler wie der achtzigjährigen energiegeladenen Helen Mirren, von Ben Kingsley und Pierce Brosnan, der in der Rolle eines kampflustigen Ex-Gewerkschaftlers eine kleine Wampe vor sich herträgt. Gleich zwei Ex-Bonds (siehe Daniel Craig) als Detektive – Zufall? Von jeher bieten Krimis im Agatha-Christie-Stil eine großartige Gelegenheit, gut abgehangene Schauspieler und vor allem Schauspielerinnen auf der Höhe ihrer Kunst in Ruhe zu betrachten. In keinem Genre sind die Alten so gefragt wie im Traditionskrimi.
Ein TV-Dauerbrenner sind besonders Krimiserien. Unter diesen seien zwei der langlebigsten herausgegriffen: Seit 2012 bei der BBC und später auf Disney+ ist die britisch-französische Serie »Death in Paradise« im Programm, mit Weihnachtsspecials. Die Serie ist entlang des traditionellen whodunit inszeniert, mit der obligatorischen Versammlung aller Verdächtigen und zeremoniellen Entlarvung des Täters am Ende. Die besondere eskapistische Note liefert der Schauplatz, eine fiktive Karibikinsel, ausgeschmückt mit witzigen Details wie etwa dem Running Gag der grünen Echse Harry im Haus des aus London auf die Insel entsandten Ermittlers.
Ebenfalls eine weltweite Fangemeinde hat die seit 2012 ausgestrahlte australische Serie »Miss Fishers mysteriöse Mordfälle«, die im Melbourne der 20er Jahre spielt. Als Mini-Miss-Marple grätscht darin eine reiche Junggesellin in die polizeilichen Ermittlungen; die Fälle sind betont gesellschaftskritisch. Doch Miss Fisher, jung, selbstbewusst, versiert als Pilotin und sexuell umtriebig, ist mehr anachronistische Actionheldin denn eine Agatha-Christie-Figur: eine emanzipierte Barbie für Zuschauerinnen, die mit »Sex and the City« aufgewachsen sind. Zumal Miss Fisher zu jedem Handlungsschritt neue atemberaubende Roben präsentiert. Pünktlich zu Weihnachten läuft außerdem die zweite Staffel der Serie »Mistletoe Murders« (Magenta TV) an, in der ebenfalls eine aufgekratzte junge Hobbydetektivin eine Kleinstadt aufmischt.
Alles ganz nett – aber nein. Zumindest für Weihnachten sind diese einstündigen Serienabenteuer in vieler Hinsicht zu grell. Das gilt leider auch für Kenneth Branaghs aufgemotzte Remakes klassischer Agatha-Christie-Filme »Tod auf dem Nil« (2022), »Mord im Orient-Express« (2017) und »A Haunting in Venice« (2023), die Erstverfilmung von »Die Schneewittchenparty«. Spitzenensemble, großes Trara, Ausstattungsbombast, null Charme: besonders Mr. Branagh als Hercule Poirot dürften nicht wenige Leser und Filmkenner mit Poirots Worten »je suis en peu snob« ablehnen und Vorgängern wie Peter Ustinov und Albert Finney nachtrauern. So hat jedes Agatha-Christie-Revival das Problem, dass man die Vorgänger mitdenkt, jedes Remake auch ein augenzwinkernder Meta-Film ist, gleichzeitig Wiederholung und Variante. Dabei verirrt sich das Wiederaufgewärmte oftmals zwischen Vintage, Hommage und Ironie. Oder befremdet durch aufgesetzte Originalität: Zumindest an Weihnachten ist eine postmoderne »Glass Onion«, wie der Schauplatz, eine via CGI fabrizierte Glaskuppel, in »Knives Out 2« genannt wird, ein Stilbruch. Man hängt sich ja auch keine Bauhaus-Würfel an den Christbaum. Da ist ein krachlederner, gelegentlich obszöner Ulk wie »Eine Leiche zum Dessert« (1976), in dem legendäre Krimihelden mitsamt den literarischen Stereotypen ihrer Erschaffer hemmungslos karikiert werden, immer noch unterhaltsamer.
Die »Knives Out«-Reihe wird ebenso fortgesetzt – »Wake Up Dead Man: A Knives Out Mystery« startet am 12. Dezember – wie mutmaßlich weitere Hercule-Poirot-Remakes von Kenneth Branagh. Zwischen den Jahren aber sollte man sich lieber in die altbekannten Originale hineinversenken wie in ein weiches Bett zum Winterschlaf. Fünf hochklassige Verfilmungen der Siebziger und frühen Achtziger wie »Tod auf dem Nil« und »Das Böse unter der Sonne« werden Ende November als 4K-gemasterte Agatha-Christie-Collection-Box (Studiocanal) verkauft. Die Hauptrollen spielen unter anderen Mia Farrow, Liz Taylor, Maggie Smith, Bette Davis, Ingrid Bergman, Anthony Perkins, Sean Connery … Es ist wie ein Wiedersehen mit alt gewordenen Bekannten an Weihnachten.
Oder warum nicht gleich back to the roots mit den originalen Miss-Marple-Kinofilmen wie »16 Uhr 50 ab Paddington« oder »Mörder ahoi!« aus den Sechzigern? Nostalgischer und verschmitzter geht es kaum (dies schreibt jemand, der mal allen Ernstes erwogen hat, ein Margaret-Rutherford-Foto eingerahmt an die Wand zu hängen). »Die jungen Leute denken, die Alten sind Narren, aber die Alten wissen, die Jungen sind Narren.« Sagt Miss Marple.
Der womöglich beste Weihnachtsspaß zum Runterkommen ist allerdings nicht eine Agatha-Christie-Verfilmung, sondern der britische Krimikomödienklassiker »Ladykillers« (1955) von Alexander Mackendrick. Im Zentrum steht eine reizende alte Dame, deren neuer Untermieter mit anderen Musikern im Streichquintett probt. Die Männer, tatsächlich eine Gangsterbande, planen einen Bankraub und spielen als Tarnung immer wieder auf dem Grammophon ein Menuett von Boccherini ab, immer wieder unterbrochen von der ahnungslosen Mrs. Wilberforce, die ihnen ungefragt Tee serviert. Und weil man immer wieder vergisst, wie genau die Gangster sich gegenseitig entleiben, kann man auch diesen Film immer wieder sehen. Auch der Onkel wird sich amüsieren.




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