Netflix: »Left-Handed Girl«
Zu Beginn bunte Formen und Steinchen, die sich in geometrischer Logik neu anordnen. I-Jing (Nina Ye) blickt durch ihr Kaleidoskop, sieht die Welt in entrückter Abstraktion, während sie mit ihrer alleinerziehenden Mutter Shu-Fen (Janel Tsai) und der älteren Schwester I-Ann (Shih-Yuan Ma) nach mehreren Jahren auf dem Land nach Taipeh zurückkehrt.
Das Kaleidoskop ist eine so spielerische wie treffende Metapher für Shih-Ching Tsous Solo-Regiedebüt »Left-Handed Girl«, das Premiere in der Semaine de la Critique in Cannes feierte und als taiwanesischer Beitrag ins Oscarrennen geht. Die taiwanesisch-amerikanische Regisseurin hat einen ganz eigenen, verspielten Blick auf die Stadt, in der sie selbst geboren wurde und aufwuchs, und auf ihre Figuren, deren Leben sich im Verlauf des Films neu sortieren. Mit der Handkamera geht es hinein in die Metropole. Wir folgen Shu-Fen bei dem Versuch, sich mit einem Nudelstand auf dem großen Nachtmarkt über Wasser zu halten. Mehr schlecht als recht, denn obwohl ihr Ex sie, wie ihre älteste Tochter sie lautstark erinnert, verlassen und schlecht behandelt hat, will sie für dessen Beerdigung aufkommen. I-Ann ist schwer postpubertär, arbeitet in einem kleinen Kiosk und sucht sich selbst.
Mit der kleinen I-Jing, wahnsinnig drollig und vielseitig von Nina Ye gespielt, wackelt der Film immer wieder über den Nachtmarkt. Die Kamera zeigt ihn, wie alles in dem Film, zwischen diffusem Licht und Neonreklamen als naturalistisch entrückten Ort und begibt sich auf Augenhöhe der jungen Heldin. Die ist für eine Fünfjährige notorisch unterbetreut. Nachdem der Opa, ein Traditionalist, ihr verbietet, mit links zu malen, weil das die Hand des Teufels sei, geht die Kleine mit ihrer »Teufelshand« auf Diebesstreifzüge.
Das Drehbuch hat Tsou gemeinsam mit Sean Baker geschrieben, der auch für den Schnitt verantwortlich zeichnet. Die beiden besuchten die gleiche Filmschule und unterstützen sich seit über 20 Jahren bei ihren Projekten. Ihr gemeinsames Co-Regiedebüt gaben sie 2004 mit »Take-Out« über einen chinesischen Einwanderer, der ohne Aufenthaltsgenehmigung als Lieferfahrer eines Imbisses in New York arbeitet.
Wie Baker schlägt sich auch Tsou auf die Seite der gesellschaftlichen Randgestalten im kapitalistischen Hamsterrad. Es ist interessant, wie sich in »Left-Handed Girl« im besten Sinne eine gewisse Bakerness in eine in der taiwanesischen Kultur verankerte Geschichte einschreibt. Denn im Kern erzählt Tsou von Frauen aus verschiedenen Generationen im patriarchalen Korsett, von gesellschaftlichen Zwängen und Familientraditionen.
Dass dem Film trotz seiner schweren Themen die Leichtigkeit nicht abhandenkommt, ist ein mehr als gelungener Balanceakt. Existenzkampf, Tod, Mutterschaft, Frausein und gesellschaftliche Klassen, dazwischen die kindlich-neugierigen Augen, ein aus dem Fenster fliegendes Erdmännchen oder ein liebevoller Verkäufer, der nur Quatsch wie einen magischen Zahnpastatuben-Quetscher feilbietet: »Left-Handed Girl« pulsiert vor Leben und findet ohne Präkariatskitsch Hoffnung, nachdem sich alles mit einigen Überraschungen neu zusammengesetzt hat.





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