Ein Außenseiter, mittendrin

Kann ein Film psychotisch sein? Es hilft schon einmal, wenn seine Hauptfigur es ist. Jacques Vallin (Charles Denner), der uns in Alain Jessuas Langfilmdebüt von 1964 zunächst als sympathischer Tagträumer begegnet, verliert zusehends den Bezug zur Wirklichkeit. Er halluziniert von Tag zu Tag mehr und seine Haut wird immer dünner. Er geht irre an der Welt und versinkt am Schluss in eine beklemmend heitere Katatonie.

Der Filmtitel ist Programm, »La vie à l'envers«, das umgekehrte Leben. Dabei ist der inzwischen entlassene Immobilienmakler überzeugt davon, er würde nun viel genauer hinschauen. Er fühlt sich viel leichter plötzlich. Die Kamera, die zuvor in gleichsam mobilem Verharren seinem Dasein folgte, erblickt in seinem Ambiente nun immer häufiger enge Tunnel. Das genaue Hinschauen wird fortan zu ihrem Ansporn und Impuls. Sie geht immer näher an die Dinge heran, kein Detail entgeht dieser Mikrofotografie mehr, sie studiert die Borke eines Baumes mit der gleichen Gründlichkeit, mit der sie die Haut von Madame Vallin (Anna Gaylor) erkundet. Dieser Blick kann nicht umhin, auf sein Subjekt zurückzufallen. Einmal zoomt die Kamera auf Jacques' einsames Gesicht zu, wo sie oberhalb des Lächelns jetzt Tränen in den Augen entdeckt. Wie es heißt, ist dies ein Lieblingsfilm von Scorsese. 

Jessuas Blick für bezeichnende Symptome ist unbestechlich. In meinem Eintrag vom 5.6. hatte ich angekündigt, auf ihn zurückzukommen. Nun bietet sich eine exzellente Gelegenheit, denn Kurator Gary Vanisian stellt die bereits in Wien erprobte Reihe »Das umgekehrte Leben« vom 10. bis zum 13. Juli im Kino des DFF in Frankfurt vor (https://filmkollektiv-frankfurt.de/alain-jessua/); offenbar wird dabei auch aus einigen der Romane gelesen, die der Regisseur zu schreiben begann, als die Filmbranche das Interesse an ihm verlor – oder war es umgekehrt?

Ganz leicht hat dieser Freischärler es ihm freilich auch nie gemacht. Schon in seinem zweiten Film »Jeu de Massacre« (Mordgeschichten, 1967) zeigt er sich als unberechenbar. Auch hier ist es zum Wahn nicht weit (das ist es nie bei ihm), als ein psychopathischer Fan das Leben eines Paars übernimmt. Bis dahin bildeten sie ein sturmerprobtes Gespann - Jean Claude Cassel schreibt die Texte ihrer Comics, Claudine Auger fertigt die Zeichnungen an – aber da sie chronisch klamm sind, lassen sie sich leicht korrumpieren. Stilistisch vollzieht Jessua jedoch in eine ziemliche Kehrtwende: mit einer filmischen Umsetzung des Yéyé-Pops der 1960er, die sich visuell ins Schlepptau der bunten Strips des belgischen Graphikers und Comickünstlers Guy Peelleart begibt.

Ohnehin ist in Frankfurt eine ziemlich erstaunliche Karriere zu besichtigen, die mit Regieassistenzen bei Jacques Becker und Max Ophüls begann (ausgerechnet von ihm will er gelernt haben, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und alle Schnörkel & Verzierungen fortzulassen!) Die eigene Regielaufbahn lässt sich prächtig an mit dem „Goldenen Löwen“ für das beste Erstlingswerk in Venedig Nach dem Erfolg von »Mordgeschichten« (Drehbuchpreis in Cannes) nimmt ihn Dino de Laurentiis unter Vertrag, Jessua vergeudet einige gut bezahlte Jahre mit Projekten, aus denen nie etwas wird. Anfang der 1970er etabliert er sich im französischen Mainstream mit bemerkenswertem Pragmatismus. Er dreht mit großen Stars – Delon etwa besetzt er gehörig gegen den Strich, weshalb dieser sich beim zweiten Mal wenig kooperativ zeigt – und arbeitet außerdem in zugkräftigen Genres. Wobei nicht immer ganz einfach zu bestimmen ist, um welche Gattung es sich jeweils handelt. „Mordgeschichten“ fängt als beschwingte Paranoiakomödie an, schwenkt dann jedoch hinüber zu einer Parodie aufs grelle zeitgenössische Pop-Kino - und würde sich dank des doppelten Bodens der Comic-Erzählung gut in einer langen Nacht mit „Das 10.Opfer“ von Elio Petri und »Wie bringt man seine Frau um« von Richard Quine schlagen. In »Der Schocker« verknüpft er den Medizinthriller beherzt mit Elementen des Vampirfilms. Das Satirische schlägt Widerhaken in eigentlich all seine Filme, und meist zeigt er sich auch als fahrig-bekümmerter Soziologe. Sein Abscheu vor den Frivolitäten der modernen Mediengesellschaft muss enorm gewesen sein.

Es gäbe schon einige Kontinuitäten, die Jessua in den Augen der französischen Kritik durchaus den Status des auteurs hätten eintragen können. Er hatte eine Vorliebe für bestimmte Darsteller, namentlich Michel Duchaussoy, Jean Yanne sowie seine Gattin Anna Gaylor, die beinahe in jedem seiner Filme auftritt (in Armaguedon / Der Erpresser setzt sie 1977 gewissermaßen ihre Figur aus »Das umgekehrte Leben« unter dem selben Rollennamen fort). Die Partituren stammen von populären Jazzmusikern wie Jacques Louissier und Michel Portal; auch Astor Piazzolla verpflichtet er einmal. Ein Faible für Erzählkommentare aus dem Off, denen nie zu trauen ist, zieht sich geschmeidig durch sein Werk.

Auch greift er bestimmte Motive regelmäßig auf. Audiocassetten spielen oft eine zentrale Rolle in seinen Intrigen. Die turbulente Nacktszene, für die sich in »Der Schocker« praktisch das gesamte Ensemble entkleidet, taucht zehn Jahre später in Paradis pour tous / Brainwash – Ein Mann in Bestform erneut auf. Und Nathalie Baye erweist sich in »En toute innocence« (Mord-Skizzen, 1987) als ebenso talentierte Zeichnerin wie Claudine Auger in »Mordgeschichten«. Darin gelangen ihm übrigens einige tolle Besetzungscoups: etwa die treffliche Suzanne Flon als Ehefrau von Michel Serrault, mit dessen Image er wiederum verschmitzt spielt: nach einem Verkehrsunfall ist er an den Rollstuhl gefesselt (kann sich dank seiner Fertigkeiten als Bergsteiger jedoch im Duell mit Baye behaupten) und scheint seine Stimme eingebüßt zu haben (eine formidable Zumutung für den sonst schwatzhaften Schauspieler).

Dass Jessua das Befremdliche, Verstörende stets als ein abgefeimter Realist filmt, hätte ihm eigentlich ebenfalls Punkte auf der Auteur-Skala einbringen müssen. Ein Moralist ist er allemal. Aber vielleicht machte er sich, zumal in »Mord-Skizzen«, zu eigensinnig auf dem Terrain Claude Chabrols breit, welches die heimische Kritik im Zweifelsfalle dann doch lieber gegen Eindringlinge schützte. Sagen wir es einmal so: In Frankfurt ist zu entdecken, dass auf dem Feld der Erforschung gesellschaftlicher Pathologien mindestens Platz für zwei französische Filmemacher gab.

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