Der lange Atem
Die Stadt Fengjie verschwand, nachdem sie mehr als 2000 Jahre existierte, von den Landkarten Südchinas. Als das Gebiet am Yangtze vollends überflutet und der Drei-Schluchten-Staudamm fertiggestellt war, ging sie unter. Der Abbruch des Ortes, der für viele Generationen Kontinuität und Geborgenheit bedeutete, dauerte nur zwei Jahre. Danach existierte diese Heimat noch eine Zeitlang als Motiv auf einer Banknote.
Also eigentlich der falscheste Ort, um nach der Vergangenheit zu forschen und darauf zu hoffen, wieder an diese anzuknüpfen zu können. Aber genau davon handelt »Still Life«, den Jia Zhang-ke dort 2006 drehte. Die Auslöschung der Stadt war besiegelt und der traditionellen Lebensweise nur noch eine kurze Frist gewährt. Wie es dort aussah, hält nicht nur „Still life“ fest. In Jia Zhang-kes jüngstem Film »Caught by the Tides« ersteht sie noch einmal auf. Darin sind noch zusätzliche Facetten der todgeweihten Urbanität zu besichtigen, eine Gasse beispielsweise, die im Dämmerlicht stimmungsvoll emporführt zu einer Kirche. Die damalige Suchbewegung variiert der Regisseur diesmal und kehrt sie um. Was von den Orten und den Gefühlen übrigbleibt, wenn die Wurzeln gekappt sind, ist ein Thema, das sich durch sein gesamtes Werk zieht.
Es ist nicht ganz einfach zu bestimmen, welchem Genre sein neuer Film angehört. Allerdings schillerte seine Arbeit von Anfang an. Das Vorgefundene nährt bei ihm einerseits die Fiktion. Aber gleichzeitig mit »Still Life« drehte er in Fengjie auch »Dong«, den Dokumentarfilm über einen dort ansässigen Künstler. Diese Parallelführung setzt sich in »Caught by the Tides« fort, der selbst parallel zu seinen Arbeiten der letzten 25 Jahre entstand. Er liefert gleichsam das Bonusmaterial dazu, Outtakes und alternative Szenen (die im unterschiedlichen Bildformat und -material einen erkennbaren Zeitstempel tragen), bevor er im letzten Teil die Geschichte in neu gedrehten Szenen fortsetzt. Patrick Seyboth vergleicht den Film in seiner Kritik für "epd Film" mit einem Fluss, der Beiläufiges wieder anschwemmt. In einem Interview spricht Jia von einer treibenden Generation; so will er den Titel verstanden wissen.
Patrick schreibt von Miniaturen, die sich verdichten. Falls »Caught by the Tides« er überhaupt eine Handlung erzählt, geschieht dies entschieden situativ, episodisch und assoziierend. Es geht immer wieder um Menschen, die zurückbleiben, während andere gehen. Hauptdarstellerin Zhao Tao verkörpert weniger eine Figur (obwohl es sich trifft, dass sie schon in vorangegangenen Filmen den Rollennamen Qiao trägt), sondern fungiert als eine Art Gästeführerin durch die Verwerfungen, von denen die chinesische Gesellschaft seit der Jahrtausendwende ergriffen wird. Jia bewundert ihre Fähigkeit, "sich schnell an einen Ort einzufügen." So geleitet sie durch einen hinreißenden, betörenden Flickenteppich, der birst vor poetischer Fundstücke: der Kopf einer schlafenden Frau ruht auf einer Blume; aus einem Steinbruch ragt ein einzelner Kinderstiefel hervor, dann eine Barbiepuppe oder ist ein verbleichendes Familienfoto in den Bauschutt drapiert.
In »Caught by the tides« entsteht dabei ein großer, notwendig brüchiger Zusammenhang. Ein eigenes filmisches Universum formiert sich. Mit dem Film hat Jia Zhang-ke seine persönliche Konsequenz gezogen aus der Corona-Pandemie: Als das Drehen unmöglich war, befragte er einfach das eigene Archiv. Dennoch stellt sich mir die Frage nach dem Planvollen: Waren die gedrehten, vorerst ausgemusterten Elemente für eine spätere Verwendung gedacht? Ein anderer Filmemacher kommt mir hierbei in den Sinn, der die Beschränkungen der Pandemie ebenfalls kreativ nutzte: Pedro Almodóvar. Über dessen Halbstünder »The Human Voice« habe ich im Eintrag "Ein Werkzeugkasten" vom 2. August 2022 geschrieben., Darin erwähne ich, dass Jean Cocteaus Einpersonenstück bereits in »Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs« und »Das Gesetz der Begierde« eine wichtige Rolle spielt. Letzteren habe ich mir unlängst noch einmal angesehen, weil er im Rahmen einer Reihe im Filmarchiv Austria über das Kino der "Transicion", der Übergangszeit nach Francos Tod lief. Das Wiedersehen öffnete mir schlagartig die Augen dafür, wie entschlossen dieser Film 1987 in Almodóvars Zukunft weist. Er beschreibt mithin die gegenläufige Bewegung zu der, die sein chinesischer Kollege einschlägt. Faszinierend, wie in beiden Filmen (und Oeuvres!) die Affekte und Objekte auf je eigene Weise zirkulieren.
Der Spanier erprobt zahlreiche Personenkonstellationen, die er später wieder aufgreifen wird. Die Figur des Regisseurs, der sein eigenes Leben (sowie sein Umfeld) in ein Drehbuch verwandelt und dabei in haarsträubende melodramatische Verstrickungen gerät, formuliert er 2004 neuerlich in »La mala educación – Schlechte Erziehung« aus. Der Regisseur aus »Das Gesetz der Begierde« probt aber eben auch »Die menschliche Stimme« von Cocteau für ein Theater in Madrid. Natürlich sieht die Inszenierung ganz anders als als später mit Tilda Swinton. Die kleine Nichte des Filmemachers überquert mechanisch die Bühne, auf der Carmen Maura die Selbstzerfleischung der einsamen Frau am Telefon darstellt. Das Theaterplakat ist übrigens ein dreistes, hübsch einfallsreiches Plagiat des Posters, das Saul Bass für »The Human Factor« von Otto Preminger entwarf.
Diese Version des Cocteaustücks ist ein neuralgischer Punkt im Film, an dem die leibliche Mutter des Mädchens nach Jahren des Schweigens plötzlich auftaucht, gespielt von Bibi Anderson, die ich zuerst gar nicht erkannte. (Es geht ohnehin ziemlich verworren zu.) Ganz offensichtlich ließ Almodóvar das Drama nicht los. Auch er also ein Regisseur, der sein Gesamtwerk stets fest im Blick hat.
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