Eine Nachbarin

Als er morgens ins Büro kam, erzählte Joel, hatte sich trotz des Regens schon eine lange Schlange gebildet. Die Türen der Cinémathèque waren noch verschlossen, die Gedenkfeier sollte erst in anderthalb Stunden beginnen. Der Andrang der Menschen, die um Agnès Varda trauerten, war so enorm, dass der große Saal nicht ausreichte, die Feierstunde musste in die zwei anderen Kinos übertragen werden.

Ich kam ein paar Tage zu spät; meine Parisreise war aus anderen Gründen geplant. Außerdem hatte ich nicht mit ihrem Tod gerechnet. Während der Pressekonferenz auf der Berlinale war sie mir noch ziemlich kregel vorgekommen, klar und bestimmt in ihren Antworten, wenngleich nicht mehr ganz so unermüdlich. Jetzt war ich dankbar, dass mein Freund mir berichten konnte. Joel Daire verwaltet die Sammlungen der Cinémathèque und wusste schon seit dem letzten Sommer, wie schlecht es um sie stand. Sie hatten ihre große Varda-Retrospektive für April geplant, aber dann kam ein Anruf von ihrer Tochter Rosalie, die verkündete, da könnte es bereits zu spät sein. Also wurde sie rasch auf den Januar vorverlegt und behauptete sich gut neben den Reihen, die zur selben Zeit Eric Rohmer und Billy Wilder gewidmet waren. Mit diesem Dreigestirn verzeichneten sie einen schönen, kleinen Besucherrekord. Joel war nicht überrascht, wie staatstragend die Trauergemeinde war: der Kulturminister, etliche seiner Vorgänger, die Bürgermeisterin von Paris und viele andere. Die Reden seien so gewesen, wie es sich für einen solchen Anlass gehört. Aber eigentlich habe ihn die Feier an ein großes Familientreffen erinnert. Und am meisten freute ihn das Abschiedslied, das Jane Birkin am Schluss der Feier für ihre Regisseurin und Freundin sang.

Am Nachmittag, bei der Beerdigung auf dem Friedhof Montparnasse, habe das Wetter dann mitgespielt: Plötzlich sei keine Wolke mehr am Himmel zu sehen gewesen. Auch hier versammelten sich zahlreiche offizielle Trauergäste, aber es war eigentlich die Stunde der treuen Zuschauer, der Nachbarn und fernen Bewunderer. Auch mein Gastgeber Binh, den ich später bei einem Abendessen sah, war dort gewesen. Er erzählte mir von der schönen Anrede, die Vardas Sohn Mathieu Demy bei dieser Gelegenheit erfand: Alle sprächen von seiner Mutter als einem Monument, aber für ihn sei sie einfach Maman gewesen, also wolle er sie jetzt »Monumaman« nennen.

Zu dem Abendessen waren ein paar Filmleute eingeladen. Da wurden auch andere Töne über die Verstorbene laut. Gewiss sei sie eine große und wichtige Filmemacherin, meinte eine Presseagentin, aber worüber nun keiner mehr spräche, sei ihr abscheulicher Charakter. Das fand einige Zustimmung: Bei der Arbeit konnte sie unerträglich sein. Eine Kamerafrau erzählte, beim Dreh mit ihr sei sie durch die Hölle gegangen - aber bei keinem anderen Film habe sie so viel gelernt.

Binh hatte Agnès Varda einige Wochen zuvor noch für »Positif« interviewen sollen, aber sie hatte keine Lust mehr, Fragen zu beantworten und überließ das ihrer Tochter und Produzentin Rosalie. Diese vertraute meinem Freund an, dass es überhaupt keine Familienfotos mit ihr gab, denn sie trat eben ständig in den Filmen ihrer Eltern auf. Als sie 18 wurde, hatte sie genug davon. Aber am Ende landete sie dann doch wieder in der Firma ihrer Mutter. Anscheinend war es schwer, sich ihrem Willen zu entziehen.

Am nächsten Morgen fuhr ich zum Friedhof. Ich wusste genau, wo ihre Grabstätte lag, denn ich hatte vor langer Zeit eine Reise auf den Spuren von Vardas Ehemann Jacques Demy unternommen. Eine kleine Schar hatte sich dort unter der Zeder versammelt, die mir nicht viel größer erschien als damals. Nicht alle waren im Rentenalter. Ein Paar mit Kinderwagen legte einen Strauß nieder und eine vielleicht zwanzigjährige Frau machte Fotos mit ihrem Smartphone. (Kurios, meines verweigert mir auf Friedhöfen meist den Dienst.) Die Anzahl der Kränze und Blumensträuße war immens. Ich schaute mir einige der Schleifen genauer an. Auf einer las ich den Namen von Macha Méril, der Witwe Michel Legrands. Das Kino Katorza in Nantes, das ich von meiner Demy-Pilgerfahrt her kannte, trauerte um sie; ebenso wie die Händler in ihrer Straße. Viele Kondolierende hatten Kartoffeln mitgebracht, als Hommage an »Die Sammler und die Sammlerin«, und diese neben Demys Grabstein aufgereiht.

Ich hatte in »Le Monde« gelesen, dass Vardas Enkelkinder die Straßenpfosten vor dem Friedhof am Morgen vor der Beerdigung angemalt hatten, sodass deren Köpfe nun wie der zweifarbige Haarschopf ihrer Großmutter aussahen. Die kleinen Pfeiler waren rasch gefunden. Diese verschmitzte Umwidmung der Urbanität hätte Oma Agnès bestimmt gefallen.

Von hier aus war es nicht weit in die Rue Daguerre, wo sie sechs Jahrzehnte lang gewohnt hatte. (Alles lag in ihrer Welt nahe bei einander, auch die Fondation Cartier, wo ich einmal eine Ausstellung von ihr besuchte, ist in der Nachbarschaft.) Der Blumenhändler, den ich nach ihren Lieblingsblumen fragte, war der falsche. Nein, sie war immer zu dem anderen Geschäft gegangen, das näher an ihrem Haus lag. Ich wollte ihn dennoch nicht mit leeren Händen verlassen. Er schlug Tulpen vor, die passten immer, er hatte gerade frisch ein paar schöne gelbe hereinbekommen. Nein, entgegnete ich, sie müssten schon zweifarbig sein.

Auch mehr als eine Woche nach ihrem Tod wurden noch immer viele Sträuße vor der Hausnummer 86 abgelegt. Ich wünschte, meiner wäre der schönste gewesen, aber die Konkurrenz war prächtig. Auf einem Fenstersims standen wieder ein Paar Kartoffeln. Eine Gruppe Passanten, vorwiegend ältere Damen, machte Halt vor dem putzig rosafarbenen Haus. Die Blumen konnten sie sich erklären, aber was hatte es wohl mit den Kartoffeln auf sich? Man konnte gut Namen und kurze Botschaften darein ritzen, meinte eine der Neugierigen. Ich schaltete mich ein, wie es meine Art ist bei solchen Gelegenheiten, und erklärte der Runde, das spiele auf einen berühmten Film an, den sie über Lebensmittelsammler gedreht hatte. Den kannten sie nicht, aber als ich hinzufügte, sie sei bei einer Ausstellung in Venedig als Kartoffel kostümiert aufgetreten, erwiderte eine gepflegte, asiatisch aussehende Dame begeistert: »Das passte zu ihr!«

Sie war oft auf der Straße mit ihr ins Plaudern geraten. Vor ein paar Jahren hatte Madame Agnès ihr erklärt, weshalb sie fortan beim Färben der Haare einen Teil weiß lassen wollte: Ihr Alter sollte man ihr ansehen, aber mit einem Kniff – und die erste Zweit-Farbe war die des Hauses, in dem sie neben den Büros ihrer Produktionsfirma Ciné-Tamaris wohnte. Direkt gegenüber, neben dem zweiten Blumenladen, hatte Varda viele Jahre ein Geschäft betrieben, in dem man Videocassetten, DVDs, Plakate und Sonstiges kaufen konnte. Aber irgendwann hatte sie es aufgegeben: warum eigentlich? Die Antwort lag mir auf der Zunge, aber dies war nicht der Tag, um über den Einbruch des Markts für Heimmedien zu reden. Nun war in die Geschäftsräume ein vegetarischer, ja veganer Imbiss eingezogen.

Mich interessierte natürlich brennend, ob meine neuen Bekannten den wunderbaren Film kannten, den Varda über ihre Straße gedreht hat, »Daguerrotypen«. Nein, sie hatten ihn nie gesehen. »Ich wohne ohnehin nur in einer Nebenstraße«, entschuldigte sich eine von ihnen für dies Versäumnis. Eine elegante asiatischstämmige Dame sagte jedoch: »Meine Mutter meinte immer, damit hat Agnès unsere Straße weltberühmt gemacht.« Nachbarschaft in der zweiten Generation. Welches Glück war es für die kontaktfreudige Madame Varda, dass ihre Straße in eine der wenigen Fußgängerzonen in Paris umgewandelt wurde! »Es ist schön, wenn man ins Gespräch kommt«, verabschiedete sich die Dame aus der Nebenstraße, »man erfährt dabei so viel."

In den letzten Jahren hatte meine adrette Gewährsfrau ihre Nachbarin nur noch in Gesellschaft ihrer Assistentinnen gesehen, die ihre Einkäufe trugen. Sie selbst ging am Stock. Zuletzt tauchte sie nicht gar nicht mehr auf, nun grüßte man die Assistentinnen. Aber Vardas Anwesenheit sei immer noch zu spüren gewesen: als ein guter Geist, der unsichtbar über das Viertel wachte. Bevor sie sich verabschiedete, wies sie mich noch auf die Bäckerei hin, in der sie die Regisseurin häufig getroffen hatte. Ich bedankte mich bei dieser trefflichen Fremdenführerin und ging hinein. Die Auswahl war groß und verlockend. »Ich hätte gern das Lieblingsbrot von Madame Agnès«, sagte ich zur jungen Frau am Tresen. Sie musste nicht lange überlegen: Das war das »Pain du Prés«, das Brot der Wiesen. Es war hell, voller Cerealien und würde Binh und mir am Abend bestimmt gut zum Käse schmecken. Warum ich gerade dieses Brot haben wolle, fragte mich die Verkäuferin. Ich erzählte ihr, dass ich aus Berlin sei und ein Bewunderer ihrer Stammkundin. »Wenn Sie von soweit her kommen«, sagte sie lächelnd, »packe ich Ihnen noch eine Brioche dazu.«

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