Filmfestival Locarno

»Do Not Expect Too Much of the End of the World« (2023)

»Do Not Expect Too Much of the End of the World« (2023)

Beim 76. Filmfestival Locarno zeigten europäische Autorenfilmer Haltung. Und es gab Anerkennung für die deutschen Produktionen

Junge Frauen in prekären Arbeitsverhältnissen zwischen Erdulden und Aufbegehren – das ist das Motiv, das von diesem Festival in Erinnerung bleibt. Die Animateurin im Luxusresort im griechischen Animal, die die Zähne zusammenbeißt und sich ihre Beinwunde zutackert, die Frau von den Kapverdischen Inseln, die in Lissabon in einer Kneipe jobbt und ihre Situation in mehreren Gesangssequenzen selbstbewusst auf den Punkt bringt, im portugiesischen »Manga d'Terra«. Und schließlich die Taxifahrerin, die in Bukarest für eine Filmfirma den ganzen Tag im Auto herumkurvt und von Castings über Materialtransport bis Gästeservice alle möglichen Arbeiten erledigt: Radu Judes 163-minütiger »Do Not Expect Too Much of the End of the World« war der Film, der bei mir nach Festivalende am stärksten nachhallte. Die Geschichte seiner Protagonistin Angela verknüpft er mit der einer anderen Angela aus einem rumänischen Film der 70er-Jahre; später lässt er die beiden Stränge kühn aufeinandertreffen, bevor eine fast halbstündige starre Einstellung am Ende das Thema prekäre Arbeit und Ausbeutung noch einmal forciert. Zuvor fand der Film sowohl Platz für Auftritte von Nina Hoss (als Auftraggeberin der Bukarester Firma) als auch für Uwe Boll (als er selbst).

Ein langer Tag für Angela, eine lange Nacht für Amir: Der Protagonist in »Critical Zone« hat einen lukrativen Nebenjob, er verkauft Drogen aus seinem Taxi heraus ebenso wie an seine Fahrgäste. Wie in seinem vorangegangenen Film »Atom Heart Mother« (der 2015 im Forums-Programm der Berlinale lief) konzentriert Regisseur Ali Ahmadzadeh erneut die Geschehnisse auf eine einzige Nacht und Figuren am Rande der iranischen Gesellschaft. Die Ruhe des Beobachtens verbindet er in diesem minimal movie mit ekstatischen Ausbrüchen – Beispiel für ein Guerillakino, bei dem es nicht verwundert, dass der Filmemacher nicht ausreisen durfte, sein Produzent nahm die Auszeichnung entgegen. 

Der Hauptpreis des Festivals, der Goldene Leopard für »Critical Zone«, war insofern auch Würdigung einer Haltung und ebenso verdient wie der Spezialpreis für Radu Jude und der Regiepreis für »Stepne«, mit dem der Zuschauer in eine vollkommen andere Welt eintauchte, die der ländlichen Ukraine, wo ein Mann in sein Elternhaus zurückkehrt, um seine kranke Mutter zu pflegen. Die Zeit scheint hier stehengeblieben – wenn vom Krieg die Rede ist, geht es um den Zweiten Weltkrieg –, aber ein geschäftstüchtiger Mann ist bereits dabei, den Kapitalismus im Kleinen durchzusetzen. Mit dem Film beendete Maryna Vroda ihr Studium an der Filmhochschule in Babelsberg, auch der iranische Beitrag war eine deutsche Co-Produktion.

Überhaupt schlugen sich deutsche (Co-)Produktionen in diesem Jahr gut. Im zweiten Wettbewerb »Cineasti del presente« waren sie mit drei Langfilmen vertreten, zwei davon wurden prämiert: bei Claudia Rorarius' »Amour fou Touched« die beiden Hauptdarsteller, bei Katharina Hubers Langfilmdebüt »Ein schöner Ort« Regisseurin und Hauptdarstellerin. Und bei den Kurzfilmen im Wettbewerb »Pardi di domani« erhielten die dänisch-deutsche und die brasilianisch-deutsche Produktion Auszeichnungen. 

Mit über 60 000 verkauften Eintrittskarten für die Vorführungen auf der 8 000 Plätze fassenden Piazza Grande gegenüber 84 000 für die restlichen Vorführungen zeigte Locarno einmal mehr, worin seine Attraktion für die hier urlaubenden Zuschauer besteht. Dass der Publikumszuspruch gegenüber dem Vorjahr um 14,3 Prozent zugenommen hat, ist schon bemerkenswert, weil diesmal die großen Hollywoodproduktionen fehlten, die das Festival sonst meist in Anwesenheit ihrer Stars eröffneten. So konnte sich Ken Loach für seinen auf der Piazza gezeigten Cannes-Beitrag »The Old Oak« über den Publikumspreis freuen. 

Dem auf die Wettbewerbe fixierten Berichterstatter ließ das Festival mit 214 Filmen (in 466 Vorführungen an elf Tagen) nicht viel Zeit für anderes, etwa die Weltpremiere von »Bonjour la langue«, dem letzten Film von Paul Vecchiali, der Anfang des Jahres verstorben ist, eine berührende Geschichte über eine Wiederannäherung von Vater (von Vecchiali selbst gespielt) und Sohn.

Als eine sichere Bank für den Besucher erwies sich auch in diesem Jahr die Retrospektive. »Spectacle Every Day« würdigte die Goldene Ära des mexikanischen Kinos zwischen 1940 und 1969 mit 36 Filmen, von großen (Melo-)Dramen bis hin zum maskierten Rächer Santo. Davon wird noch zu reden sein, wenn Teile davon in Deutschland nachgespielt werden.

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