Nachruf: Laurent Cantet

Man muss Banden bilden
Für »Die Klasse« bekam Cantet die Goldene Plame

Für »Die Klasse« bekam Cantet die Goldene Plame. © Accu Soft Inc.

11. 4. 1961 – 25. 4. 2024

Es gibt nur wenige Filmemacher, die eine Einladung in den Elysée-Palast ausschlagen würden. Laurent Cantet jedoch lehnte diese hohe Würde ab. Nicolas Sarkozy wollte sich 2008 mit dem Regisseur treffen, der in aller Munde war, nachdem er in Cannes die Goldene Palme für Die Klasse gewonnen hatte. Für Cantet war es undenkbar, mit einem Präsidenten über Diversität zu diskutieren, der ein »Ministerium für Nationale Identität« geschaffen hatte und zuvor als Innenminister die Pariser Vorstädte mit einem Kärcher säubern wollte. 

Der Regisseur, der im Alter von nur 63 Jahren in Paris einem Krebsleiden erlag, war der Inbegriff des engagierten Filmemachers. Er gehörte zu den Ersten, die für die sans-papiers (Einwanderer ohne Ausweisdokumente) auf die Straße gingen. Später stritt er für Geschlechterparität im französischen Kino. Seinen letzten öffentlichen Auftritt hatte er bei einem Treffen der von ihm mitgegründeten ­Streamingplattform »La Cinétek«, die als Zusammenschluss von Filmemacherinnen und Filmemachern konzipiert ist. 

Der Titel seines ersten, mehrfach preisgekrönten Kurzfilms »Tous à la manif« (Alle zur Demo) von 1994 besiegelt bereits seine soziale und politische Erregbarkeit. Er war, im Leben wie im Kino, fasziniert von der Idee des Kollektivs. Die aufgeweckten Titelfiguren aus Die Klasse bilden einen urbanen Mikrokosmos ab, in dem das republikanische, laizistische Ideal der Schule auf seine Tauglichkeit überprüft wird. Sie leisten lebhaften Widerstand gegen den klassischen Französischunterricht, stellen jede Aufgabe, jedes Angebot des Lehrers erst einmal infrage. Ihr Gerechtigkeitsempfinden ist unbestechlich. Das gilt auch für die Mädchengang in der Joyce-Carol-Oates-Adaption »Firefox« (2012), die in den 1950er Jahren gegen die Entrechtung der Frauen aufbegehrt. Im Gegenzug ist in »In den Süden« (2005) Cantets Bedauern zu spüren, dass die Gruppe reifer Nordamerikanerinnen in ihrer touristischen Blase auf Haiti nie zu einer echten Gemeinschaft zusammenwächst. 

Wie man Banden bildet, hat der Sohn eines Lehrerehepaares (was vielleicht erklärt, dass eine Grunderfahrung der Schulzeit in Die Klasse überhaupt keine Rolle spielt: die Langeweile) an der Pariser Filmhochschule IDHEC gelernt. Dort schloss er Freundschaften, die bis zuletzt enge Arbeitsbeziehungen wurden, etwa mit dem Kameramann Pierre Milon, den Drehbuchautoren Gilles Marchand und Robin Campillo (der später oft auch Editor seiner Filme war) sowie dem Regisseur Dominik Moll. Cantet fing zunächst mit Dokumentarfilmen an. »Un été à Beyrouth« drehte er 1990 während des libanesischen Bürgerkriegs und sammelte Erfahrungen als Assistent von Marcel Ophüls. Diese Wurzeln zeigen sich im halbdokumentarischen Erzählgestus von »Die Klasse«, den er komplett mit Laien drehte. Sein Cannes-Gewinner bestätigt zugleich Cantets einzigartiges Talent, die alten sozialen Fragen auf radikal aktuelle Weise zu stellen. Anfangs, in seinen ersten Langfilmen »Der Jobkiller« (1999) und »Auszeit« (2001), beschäftigt ihn die Fragestellung, wie sich Identität durch den Beruf formt. Dabei sind der soziale und filmische Raum präzise vermessen, die Grenzlinien rigide gezogen. Der Jobkiller, wo ein Ökonomiestudent eine Studie über die Einführung der 35-Stunden-Woche erstellen soll (was auch seinen in der Fabrik arbeitenden Vater betreffen könnte), inszeniert Cantet vor lauter verschlossenen Türen: Der Wunsch nach ­Zutritt zur Arbeitswelt ist der entscheidende dramaturgische Impuls des Films. In Auszeit erzählt er von einem ehemaligen Firmenberater, der den Vertrag mit der eigenen Mittelstandexistenz aufgekündigt hat und seine selbst gewählte Arbeitslosigkeit vor der Familie verbirg. Hier scheint Transparenz zu herrschen, Büros und Wohnungen sind einsehbar, Fensterscheiben gewähren einen freien Blick. Diese visuelle Strategie offenbart indes eine zunehmende Entfremdung, einen Realitätsverlust, der fatale Konsequenzen haben wird. »In allen Filmen behandle ich das soziale Theater, in dem wir auftreten«, erklärte der Regisseur mir einmal im Interview. »Wir tragen Masken, um uns auch vor uns selbst zu verstecken.« Seine unterschiedlichen Figuren, ergänzte er, stelle er sich wie Geschwister vor. Cantets filmische Familie wird dem Kino fehlen. 

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt