goEast 2022

Surreale Bilder
»Taubes Gestein« (2022)

»Taubes Gestein« (2022)

Zwei Jahre konnte das dem mittel- und osteuropäischen Film gewidmete Wiesbadener goEast-Festival nur digital stattfinden, in diesem Jahr 
musste es sich einer neuen Herausforderung stellen: dem Ukraine-Krieg

Kaum ist die Pandemie einigermaßen überwunden, da stürzt das goEast-Festival schon in die nächste Krise. Aus Solidarität mit der angegriffenen Ukraine entschied die Festivalleitung, »keine staatlich finanzierten russischen Filme zu zeigen«. Die beiden eingeplanten Wettbewerbsbeiträge »Hausarrest« von Alexei German Jr. und Donau von Lyubov Mulmenko wurden daraufhin von den Filmschaffenden selbst zurückgezogen.

Welche Probleme solche politischen Grenzziehungen aufwerfen, offenbart der Beitrag Umwege, den die russische Regisseurin Ekaterina Selenkina aus der Sektion »Bioskop« zurückzog. Schade eigentlich, denn ihr Film hätte dem Publikum gezeigt, wie sehr Russland zu einem totalitären Überwachungsstaat geworden ist. Warum also, so fragten sich die Zuschauer, lief dann doch ein russischer Film im Wettbewerb? »Nuuccha«, ein visuell beeindruckendes jakutisches Kolonialdrama des russisch-jakutischen Regisseurs Vladimir Munkuev, wurde zumindest nicht mit Geldern des russischen Kulturministeriums gefördert. 

Die Goldene Lilie, den mit 10 000 Euro dotierten Hauptpreis, gewann unterdessen ein Film, der statt der militärischen Auseinandersetzung den Krieg zwischen den Geschlechtern fokussiert. »Vera träumt vom Meer« erzählt von einer bodenständigen Frau, die sich nach dem überraschenden Suizid ihres Mannes, einem angesehenen Richter aus Pristina, mit der dreisten Forderung ihres Schwagers konfrontiert sieht. Vera soll ihm ein Haus überschreiben, das ihr Gatte dem Bruder angeblich versprochen habe. Die rechtmäßige Besitzerin hat gute Gründe, sich zu weigern. Zumal die baufällige Immobilie dank einem zeitnah fertig werdenden Autobahnanschluss bald ein Vielfaches wert sein wird. Doch dem Terror, dem sie daraufhin ausgesetzt ist, hat Vera nichts entgegenzusetzen. 

In diesem Film, so die Begründung der Jury unter dem Vorsitz der Schauspielerin Jasna Đuričić, geht es um »den Kampf einer Frau gegen eine primitive männliche Welt und eine heruntergekommene Männlichkeit, die leider immer noch an der Macht ist«. Das ist nur die halbe Wahrheit. Denn die kosovoalbanische Regisseurin Kaltrina Krasniqi kontrastiert in ihrem bemerkenswerten Debüt zwei Welten. 

Überzeugende Detailbeobachtungen heben hervor, dass Vera während ihrer Arbeit als Gebärdendolmetscherin für eine Fernsehanstalt die Freiheiten säkularer Rechtsstaatlichkeit genießt. Entrechtet und unterdrückt ist sie als Frau auf dem Land, wo ihr Schwager eingebunden ist in eine mafiaartige Männerbündelei, deren muslimische Verwurzelung subtil aufgezeigt wird. 

Highlight des Festivals war das ungarische Sportdrama »Sanft«, das mit dem Preis der Landeshauptstadt Wiesbaden für die beste Regie ausgezeichnet wurde. Edina, verkörpert von der Profibodybuilderin Eszter Csonka, ist seelisch abhängig von ihrem Manager und Liebhaber Ádám (György Turós). Im Zuge des schweißtreibenden Trainings, das der Film als bruchlose Fortsetzung eines erotischen Rituals zeigt, schluckt Edina pfundweise Steroide, bis sie im Scheinwerferlicht eines Wettbewerbs einen toxischen Liebestod stirbt. Ein Low-Budget-Film, gewiss. Aber auch ein atemloses Meisterwerk voller surrealer Bilder. Mit zwei markanten Laiendarstellern, die als Profis in der Bodybuildingszene tätig sind, gelingt dem ungarischen Regieduo László Csuja und Anna Nemes ein Besetzungscoup.

Neben den beiden herausragenden Werken zeichnete das Festival eine Reihe weiterer Filme aus, darunter der visuell beeindruckende ukrainische Dokumentarfilm »Taubes Gestein« von Taras Tomenko und Stefan Arsenijevićs Flüchtlingsdrama »Der Falke«, das das Schicksal eines ghana­ischen Flüchtlings auf der Balkanroute im Stil eines Roadomovies nachvollziehbar macht.

Zu den herausragenden Beiträgen zählte die ukrainisch-türkische Produktion Klondike. Mit eindringlichen Bildern erzählt die in Kiew geborene Regisseurin Maryna Er Gorbach von dem verarmten Bauern Tolik, der mit seiner hochschwangeren Frau Irka nahe der russisch-ukrainischen Grenze lebt. Im Zuge des 2014 auflodernden Donbass-Konflikts feuern russische Separatisten Raketen ab. Eine davon trifft die malaysische Passagiermaschine MH17 und reißt 298 Menschen in den Tod. Eine andere zerstört das Kinderzimmer des ungeborenen Babys. Während Tolik die Kollaboration mit den Separatisten teuer zu stehen kommt, bringt Irka unter den teilnahmslosen Augen vorrückender Soldaten ihr Kind zur Welt: ein unvergessliches Bild, in dem Leben und Tod, Hoffnung und Zerstörung in einer so noch nie gesehenen Vision verschmelzen. Der zwischen Realismus und surrealen Momenten von allegorischer Kraft changierende Film wurde von 3sat angekauft und wird anlässlich des GoEast-Festivals 2023 als Fernsehpremiere ausgestrahlt. 

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