Venedig: Roter Teppich in Zeiten der Pandemie

»Dorogie Tovarischtschi« (2020). © Sasha Gusov

»Dorogie Tovarischtschi« (2020). © Sasha Gusov

Filmfestival, das geht auch unter Corona-Bedingungen: Zum Abschluss des Mostra Internazionale di Venezia gibt es eine vorläufig positive Bilanz

Ganz genau wird man es erst in zwei Wochen, nach Ablauf der Inkubationszeit wissen, aber bislang sieht es aus, als sei diese 77. Mostra Internazionale di Venezia ein voller Erfolg. Filmfestival, das geht auch unter Corona-Bedingungen, und zwar mit allem was dazu gehört: Roter Teppich, Pressekonferenzen und volle Kinos. Nur dass überall Abstand gehalten, Fieber gemessen und Maske getragen wird. Wenn es nicht etwas zynisch klänge in diesen schwierigen Zeiten, könnte man das Resümee mit einer Aufzählung der Vorteile beginnen: durch die Pflicht zur Vorab-Onlinebuchung kein Schlangestehen, kein Gerangel um Plätze, kaum Störung durch Zuspätkommende.

Sicher, es war eine Veranstaltung mit weniger Stars und weniger Filmen, die man gesehen haben muss. Aber auch darin lässt sich ein Vorteil sehen: weniger Pflichtprogramm macht mehr Lust auf Kür. Auf Filme wie den indischen Wettbewerbsbeitrag »The Disciple« zum Beispiel, der seine Abgelegenheit von Holly- und Bollywood zugleich noch steigert, in dem er sich einem für Westeuropäer völlig obskuren Thema widmet, der klassischen indischen Musik.

Im Zentrum des Films steht ein junger Mann, der es in dieser Disziplin als Musiker zu etwas bringen will, aber letztlich scheitert. Regisseur Chaitanya Tamhan erzählt diese Allerweltsgeschichte mit einem lebendigen Sinn für Details, die die Figur lesbar auch fürs westliche Publikum machen und deren Universalität belegen: die Unsicherheit darüber, genug Talent zu haben, sich aber auch nicht verkaufen oder am Ende den falschen Gurus folgen zu wollen. Ein Film, der trotz seiner Fremdheit regelrecht verzaubert. »The Disciple« jedenfalls profitierte von der Aufmerksamkeit, die ihm mangels Ablenkung durch Beiträge mit mehr Stars und höherem Profil zugutekam.

Natürlich gab es auch die Filme, denen die aktuelle Situation eine besondere Brisanz verlieh. Jasmila Zbanic meisterhafter »Quo Vadis, Aida?« etwa, der die Stunden unmittelbar vor dem Massaker von Srebrenica nachstellt, die Überforderung der UN-Friedenstruppe, das Ausgeliefertsein der Zivilbevölkerung und vor allem, wie plötzlich ein solcher Vorfall eine eben noch friedlich lebende Gesellschaft ereilt: Nur weil wir uns etwas nicht vorstellen können, heißt es nicht, dass es nicht doch passieren kann.

Welch regelrecht heißen Zeitbezug zum Hier und Heute sein Film herstellen würde, kann sich der Russe Andrey Konchalovsky beim Drehen seines Films »Dorogie Tovarischtschi« (»Liebe Genossen«) kaum gedacht haben. Der inzwischen 83-jährige Regisseur erzählt von einer realen Begebenheit, die die Sowjetunion aus der Geschichtsschreibung eigentlich löschen wollte: dem Arbeiteraufstand in der südrussischen Stadt Novotscherkassk im Jahr 1962, bei dem die Armee schließlich in die unbewaffnete Menge schoss und mindestens 26 Menschen tötete. Konchalovskys Schwarzweißbilder von spontan Protestierenden in den Straßen damals korrespondieren mit denen von heute aus Weißrussland und Chabarowsk.

Noch interessanter wird der Film aber durch die Erzählperspektive, die er wählt: statt vom Standpunkt der heroischen Arbeiter, schildert Konchalovsky aus der Sicht einer erwachsenen Frau im Stadtsowjet, die 1962 noch an Stalin glaubt, die einerseits die Nöte der Arbeiter ob der Preiserhöhungen versteht, andererseits fordert, die Aufwiegler erbarmungslos zu bestrafen. Als ihre eigene, rebellisch denkende Tochter nicht nach Hause kommt, beginnt sie eine verzweifelte Suche, die ihre eigene Ambivalenz nur noch zuspitzt.

Ihre »reaktionäre« Perspektive, die Konchalovsky weder feiert noch desavouiert, verleiht dem Film etwas Ungefälliges, das erst recht aufrüttelt. »Liebe Genossen!« ist tatsächlich ein heißer Kandidat auf den Goldenen Löwen.

Mit Konchalovskys absolut fesselnder Schilderung eines historischen Aufstands auf Augenhöhe der Zeitgenossen kann es Michel Francos fiktiver Aufstand im heutigen Mexiko in seinem Film »Nuevo Orden« nicht aufnehmen. Man erkennt es daran, dass, wo Konchalovsky Andeutungen reichen, Franco mit drastischen Gewaltszenen aufrüstet. Der Aufstand der Besitzlosen gegen die Besitzenden, den er als gnadenloses, ungerechtes Chaos zeichnet, endet mit einer neuen Ordnung, die sich von der alten aber kaum unterscheidet. Ein Film der im Vergleich zu denen über reale Ereignisse zu ästhetisch abgezirkelt wirkt.

Am Ende wird sich dieses 77. Filmfestival auch rühmen können, einen echten Star geboren zu haben. So machte die Britin Vanessa Kirby in gleich zwei Filmen zwingend auf sich aufmerksam: In Kornél Mundruczós »Pieces of a Woman« spielte sie eine Frau, die mit dem Tod ihres Neugeborenen fertigwerden muss; in »The World to Come«, einer weiblichen Variante auf »Brokeback Mountain«, ist sie eine Pioniersfrau im amerikanischen Nordosten des 19. Jahrhunderts, die ihre Liebe zu einer anderen Frau nicht leben darf.

In beiden Filmen zeigt Kirby die faszinierende Fähigkeit, innere Konflikte durch maximal äußere Beherrschtheit hindurch sichtbar zu machen. Eine Auszeichnung für den einen oder den anderen Film scheint ihr sicher – und sollte sie leer ausgehen, wäre das eine der Geschichten, die man über dieses 77. Filmfestival neben der Tatsache der »Maskenspiele« in Erinnerung behalten wird.

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