San Sebastian: Kampf ums Überleben

»Pacificado« (2019). © 20th Century Fox/SSIFF

»Pacificado« (2019). © 20th Century Fox/SSIFF

Zum ersten Mal gewann ein brasilianischer Beitrag das traditionsreiche Filmfestival von San Sebastián – und Nina Hoss wurde als beste Schauspielerin ausgezeichnet

Immer wieder fährt die Kamera an den Häusern entlang, die wie angeklebt an den Berg wirken und durch schmale Wege verbunden sind. Ein gebautes Provisorium. Inmitten dieser Favela am Rande von Rio de Janeiro lebt die 13-Jährige Tati mit ihrer drogensüchtigen Mutter. Der brasilianische Beitrag »Pacificado« (»Befriedet«) des US-amerikanischen Regisseurs Paxton Winters schildert den Kampf ums Überleben in diesem Stadtviertel, das im Umfeld der Olympischen Spiele 2016 als »befriedet« gilt, das aber immer noch brutal von einer Gangstergang regiert wird. Als Tatis Vater, der frühere »Chef«, aus dem Gefängnis entlassen wird, will  er sich aber nicht mehr in die kriminellen Machenschaften verwickeln lassen. Kann man ehrlich bleiben in einer kriminellen Umgebung? Diese Frage beschäftigt »Pacificado«, der mit einer rauen und immer wieder die Enge des Viertels betonenden Ästhetik punktet. Und dafür den Hauptpreis der 67. Festivalausgabe, die Goldene Muschel für den besten Film, bekam. Aber auch die Kameraarbeit (Laura Merians) und der Hauptdarsteller Bukassa Kabengele) wurden von der Jury gewürdigt.

Der Wettbewerb war sicherlich nicht der stärkste Jahrgang der letzten Jahre, aber er zeichnete sich in diesem Jahr durch seine außerordentliche Breite und Vielfalt aus. Neben einer mitunter grobhumorigen Komödie wie »Thalasso« von Guillaume Nicloux (Frankreich), in der Michelle Houellebecq und Gerard Depardieu über das Leben, die Tour de France und die Liebe parlieren, stand etwa die düstere antipatriarchale Sekten-Parabel »The Other Lamb« (»Das andere Lamm«), die die polnische Regisseurin Malgorzata Szumowska im atemberaubenden irischen Hochland realisierte. 

Frauen in der Krise: das war das Thema mehrerer Filme in diesem Jahr. In Ina Weisses hervorragendem »Das Vorspiel«, dem deutschem Wettbewerbsbeitrag, verkörpert Nina Hoss eine Lehrerin am Konservatorium, die sich eines Geige spielenden Jungen annimmt. Ihr Leben scheint etwas zu zerlaufen: sie hat einen Liebhaber, einen Kollegen, ihr Mann ist fürsorglich, aber auch distanziert, ihr Sohn scheint sich mehr für Eishockey zu interessieren denn für Musik, und ihr Auftritt im Streichorchester der Schule endet desaströs. Und in den Übungen mit ihrem Schüler wird sie immer übergriffiger, verzweifelter, schneidet ihm die Fingernägel während ihrer Stunde, wird laut, bindet ihm ein Gewicht um. Der Film »erklärt« ihr Verhalten aber nicht – und verurteilt es auch nicht. 

Dieser Verzicht auf allzu tiefes psychologisches Ausloten verbindet »Das Vorspiel« mit dem spanischen Beitrag »La hija de un ladrón« (»Die Tochter eines Diebes«). Das Leben der jungen Sara ist ein Provisorium. Sie lebt mit ihrem Sohn in einer Übergangswohnung vom Sozialamt, der Vater ihres Kindes hilft ihr, aber es gibt wohl keine Perspektive für die drei, sie geht putzen, und zu ihrem gerade aus dem Gefängnis entlassenen Vater hat sie ein schwieriges Verhältnis. Es dauert, bis man sich als Zuschauer die Verhältnisse der Figuren angeeignet hat, und bis zum Ende wird nicht alles auserzählt, gibt es bewusste Leerstellen. Gedreht mit einer Handkamera, die immer nahe dran bleibt an den Personen, gehörte das Debüt der Regisseurin Belén Funes zu den berührendsten Filmen in San Sebastian. Und Greta Fernández brillierte in der Rolle der jungen Frau, die um ihren Platz im Leben kämpft. Konsequent erhielten Fernández und Nina Hoss auch ex aequo den Preis als beste Darstellerin. 

Die auch mehr als vierzig Jahre nach dem Tod des Diktators Franco nicht wirklich aufgearbeitete Vergangenheit der Militärdiktatur war in zwei Filmen präsent. Im Mittelpunkt von »Mientras dure la guerra« (»Während des Krieges«) von Alejandro Amenábar steht der Schriftsteller Miguel de Unamuno, der sich von einem Befürworter Francos zu einem Kritiker wandelt. Beeindruckender aber war »La trinchera infinita« (»Der endlose Graben«), in dem sich nach dem Sieg der Faschisten ein gesuchter Republikaner in einem Verschlag versteckt. Über 30 Jahre lang. Konsequent zeigt der Film in seinen zweieinhalb Stunden Laufzeit immer nur  seine Perspektive und die Innenwelt. Auch dieser Film des Regie-Trios Aitor Arregi, Jon Garaño und Jose Mari Goenaga (»Handia«) wurde als Kandidat für die Goldene Muschel gehandelt, immerhin gewann er den Preis für die beste Regie und das beste Drehbuch. 

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