Interview: László Nemes über seinen Film »Sunset«

László Nemes (2018) © MFA+ Filmdistribution

László Nemes (2018) © MFA+ Filmdistribution

Herr Nemes, Ihr neuer Film »Sunset« handelt von der Suche einer Frau nach ihrem Bruder in Budapest kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Warum lassen Sie dabei so viele Fragen offen?

Ich verstehe den Film als Mysterium, ein Labyrinth, das am Ende hoffentlich für jeden Zuschauer individuell und persönlich einen Sinn ergibt. Die Hauptfigur Írisz ist selbst ziemlich allein und verloren auf ihrer Suche. Ich vertraue dem Publikum, die Zeichen zu verstehen und die Lücken zu füllen, es wird nicht alles vorgekaut. Das empfinden vielleicht manche als anstrengend, aber es ist meine Art, die Grenzen des Filmischen zu erweitern.

In Ihrem Regiedebüt, dem Holocaustdrama »Son of Saul«, konzentriert sich die Kamera auf den Protagonisten, das Umfeld ist unscharf oder gar nicht zu sehen. Sie wollten damit den Schrecken im KZ bewusst nicht bebildern. Warum verwenden Sie nun eine sehr ähnliche Ästhetik?

In »Son of Saul« war es tatsächlich eine ethische Voraussetzung. Das Geschehen musste sich im Kopf des Zuschauers abspielen. In »Sunset« herrscht ein sehr eingeschränkter Blick, weil wir die Verlorenheit und Unsicherheit dieser Frau miterleben und die Welt durch ihre Augen entdecken. Die Ansätze ähneln sich also, sind aber nicht identisch.

Sehen Sie Parallelen in den gesellschaftlichen Umwerfungen, die Sie im Budapest 1913 zeigen, und heutigen Verhältnissen?

Auf mehreren Ebenen. Heute glauben wir, alles zu wissen, es herrscht ein permanenter Informationsfluss. Dabei wissen wir nur sehr wenig, müssen aber zu allem eine Meinung haben. Vor 100 Jahren dachten die Menschen, sie wären am Anfang eines nicht aufzuhaltenden Fortschritts. Und wie diese Welt dann kurz darauf zusammenbrach, sollte auch für uns heute eine Warnung sein.

Was meinen Sie damit?

Ich habe den Eindruck, dass Europa aus dem Gleichgewicht geraten ist. Wir sind an einem Scheideweg, unter der Oberfläche ist etwas in Bewegung, dabei war Europa nie so wohlhabend und stabil. Zugleich sind wir wie besessen von der digitalen Reizüberflutung. Wir vertrauen Computern mehr als unseren Köpfen. Wenn schon Zweijährige mit Smartphones hantieren, ist unsere Vorstellungskraft in Gefahr.

Ist das auch der Grund, warum Sie auf 35-mm-Film drehen und nicht digital?

Ich will das Physische des Mediums bewahren. Film ist mehr als bloße Information. Es ist Licht und Schatten. Es ist Magie. Erst im Gehirn verwandeln sich die statischen Einzelbilder in Bewegung. Sie verbringen also die Hälfte der Zeit im Kino in Dunkelheit, ohne dass Sie es so wahrnehmen. Und die Textur und die Kontraste eines Kinofilms auf 35-mm sind anders, das kann man digital nie erreichen.

Ist die Arbeitsweise beim Dreh auch ein Grund?

Absolut. Man muss sich vorher viel genauer überlegen, wie eine Einstellung aussehen soll. Man kann nicht, wie mit Digitaltechnik, ein Dutzend Dinge ausprobieren und nachher aus 600 Stunden Material einen Film zusammenbasteln. Beschränkung ist gut für die Kunst.

In Ungarn ist eine rechtspopulistische Regierung an der Macht. Wie schwierig ist es heute, dort Filme zu machen?

Der ungarische Filmfonds hat sich die Unabhängigkeit von politischen Einflüssen erhalten, bislang. Es werden Regiedebüts gefördert und eine gewisse Diversität erhalten. Und wir Filmemacher sind nicht auf die Finanzierung der Fernsehanstalten angewiesen. Zumindest im Moment können wir noch Filme drehen, die wirklich Kino sind und nicht Fernsehen 2.0.

Fiel es Ihnen nach dem weltweiten Erfolg von »Son of Saul« und dem Oscargewinn schwer, sich auf ein neues Projekt zu konzentrieren und dabei Ihrer Art des Filmemachens treu zu bleiben?

Ich hatte kein Problem, meinen Obsessionen treu zu bleiben, so bin ich eben gestrickt. Nicht ganz so leicht war es, die erhöhte Aufmerksamkeit auszublenden, aber ich habe eine sehr gute Crew, die sich davon nicht beeindrucken lässt und die mich immer wieder herausfordert. Es gibt einen permanenten Austausch.

Der Titel bezieht sich auf den berühmten Stummfilm »Sunrise« von F.W. Murnau. Warum?

Murnau ist einer meiner wichtigsten Einflüsse als Filmemacher. Mir gefielen die Parallelen. Sunrise ist ein Film über die Hoffnungen und die Verzweiflung ­einer Zivilisation, eine fast metaphysische Erzählung, die vieles infrage stellt und unter großem, persönlichem Risiko entstand. »Sunset« ist meine Hommage darauf.

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