Berlinale: Ein Rückblick auf die Ära Kosslick

Für das Publikum
Dieter Kosslick © Ulrich Weichert/Berlinale 2017

© Ulrich Weichert/Berlinale 2017

18 Jahre hat Dieter Kosslick Deutschlands größtes und wichtigstes Festival geleitet, 2019 wird sein letzter Jahrgang sein. Er war ein Erneuerer – und ein Buhmann

Auf einem politischen Festival dürfen Dankesreden nicht nur persönliche Botschaften enthalten, sondern sollen der Bekräftigung des Engagements dienen. Schließlich verstehen sich die vergebenen Preise als Ermutigung weiterzumachen. Gleich zu Beginn der Bären-Verleihung im Jahr 2016 fiel ein erstaunlicher Satz, der den Ton des Abends vorgab.

Er stammte von Dora Bouchoucha Fourati, der Produzentin des als bester Erstlingsfilm ausgezeichneten tunesischen Beitrags »Hedis Hochzeit«: »Danke, dass Sie die Menschlichkeit wiederhergestellt haben!« Es war nicht ganz klar, an wen sich dieses Lob richtete. Hob es auf die deutsche Willkommenskultur ab? Oder durfte sich das Festival selbst gemeint fühlen, das damit seine Zuständigkeiten heroisch erweitert sah? Seinem Leiter Dieter Kosslick wird die umarmende Unschärfe dieser Worte gefallen haben, denn sie besiegelten den Eindruck eines Festes der verstandenen Botschaften.

An diesem Abend vor vier Jahren triumphierte ein Kino der Nachrichtenaktualität. In dem Gewinner des Goldenen Bären, Gianfranco Rosis »Seefeuer«, fand diese Tendenz ihre mustergültige Verkörperung. Im Wettbewerb wurde Symbolpolitik betrieben. Die persönliche Emanzipationsgeschichte von »Hedis Hochzeit«, dessen Hauptdarsteller ebenfalls ausgezeichnet wurde, spiegelte den Aufbruch Tunesiens in eine politisch ungewisse Zukunft wider. Die Preisverleihung war eine Glanzstunde des seit anderthalb Jahrzehnten florierenden Systems Kosslick. Die Internationale Jury hatte nicht nur einige würdige Preisträger gefunden. Die Berlinale selbst durfte sich als ein Fest des Weltverbesserungskinos feiern lassen. Einmal mehr schien es jene zivilgesellschaftliche Tugend des Mutes zu beweisen, die die persönliche Handschrift ihres Direktors ausmacht.

Der mit der guten Laune

Dass Dieter Kosslick von der Filmförderung kam, merkte man ihm anfangs nicht an. Auf diesem Feld war er ab 1983 erfolgreich gewesen, zunächst in Hamburg und dann bei der Filmstiftung NRW. Aber wie ein Bürokrat wirkte dieser vergnügte Zampano beileibe nicht. Er hatte ein Buch über den Bagel geschrieben. Nach seinem Vorgänger, dem begnadeten Choleriker Moritz de Hadeln, erschien sein Umgangsstil als eine Erholung. Schon vorher war er auf Berlinalepartys als furchtloser Unterhalter aufgefallen, nun brachte er auch auf dem Chefposten gute Laune mit. Sogar das Februarwetter spielte wunderbar mit während seiner ersten Berlinale. Es war ein guter Jahrgang im Wettbewerb. Und zum ersten Mal gewann ein Animationsfilm (»Chihiros Reise ins Zauberland«) den Goldenen Bären, wenn auch ex aequo (mit »Bloody Sunday« von Paul Greengrass).

Das Gerücht, Kosslick habe als erste Amtshandlung das Budget der Retrospektive um die Hälfte gekürzt, ließ sich nicht erhärten; »European 60s: Revolte, Phantasie & Utopie« schrieb in seinem ersten Jahr eine facettenreiche Gegengeschichte dieses wichtigen filmhistorischen Kapitels. 2002 herrschte tatsächlich Aufbruchsstimmung. Der neue Festivalleiter war abenteuerlustig, aber kein Hasardeur.

Sinn für Neues

Seit der Ära seines Vorvorgängers Wolf Donner stand die Berlinale im Ruf, ein Arbeitsfestival zu sein. Mit dieser Strenge schien es vorbei zu sein. Der neue Festivalleiter brachte eine mondäne Unermüdlichkeit mit, die in den folgenden18 Jahren nicht erlosch. Er professionalisierte den Glamour, ließ die Galavorführungen der Wettbewerbsfilme von Schauspielern präsentieren. Sein radebrechendes Englisch wusste er mit Selbstironie aufzuwiegen. George Clooney kam oft, nicht immer mit einem Film und manchmal auch nur zu »Cinema for Peace«, einer Veranstaltung, die man anfangs noch für einen Teil des Festivals halten konnte. Mit Kosslicks Ernennung kehrte die Berlinale zweifach zu ihren Ursprüngen zurück. Bereits in den 1950ern galt sie als Glamour- und Publikumsfestival. Zugleich war sie von der amerikanischen Militärregierung als Fördermaßnahme für die Berliner Filmindustrie gedacht. 

Die Politik fuhr gut mit Kosslick. In jedem Jahr ließen sich neue Zuschauerrekorde vermelden. Er räumte dem deutschen Kino einen größeren Stellenwert ein. In manchen Jahren war es mit drei, vier Wettbewerbsbeiträgen vertreten, von denen einige internationale Strahlkraft gewannen, etwa »Halbe Treppe« von Andreas Dresen, »Sehnsucht« von Valeska Grisebach, die Filme Christian Petzolds und nicht zuletzt Fatih Akins »Gegen die Wand«, den das Festival zunächst abgelehnt hatte, der dann aber den Goldenen Bären gewann. Die »Deutsche Reihe«, die zuvor eine Leistungsschau des vorangegangenen Filmjahres gewesen war, mauserte sich zur »Perspektive Deutsches Kino«. Die Zukunft hatte der ehemalige Filmförderer auch fest im Blick, als er den »Berlinale Talent Campus« (nun »Berlinale Talents«) installierte, der sich zu einem regelrechten Paralleluniversum auswuchs.

Die erbitterte Feindschaft zum »Forum«, die de Hadeln gepflegt hatte, wandelte sich zu einer friedlichen Koexistenz. Das »Panorama«, das neben seinem traditionellen schwul-lesbischen Schwerpunkt bisweilen in den Verdacht geraten war, ein Überlaufbecken des Wettbewerbs zu sein, entlastete Kosslick, indem er die Sektion »Berlinale Special« aus der Taufe hob. Er war ohnehin begabt darin, neue Reihen zu erfinden, die etwa dem kulinarischen und dem indigenen Kino gewidmet sind. Mit der Initiative »Berlinale Goes Kiez« stärkte er den Rückhalt des Festivals beim örtlichen Publikum. 2015 schließlich richtete die Berlinale als erstes A-Festival eine Plattform für Fernsehserien ein und bewies damit Gespür für den sich wandelnden Zeitgeist. 

In der Kritik

Kosslicks Talent bestand nicht zuletzt darin, den Eindruck zu vermitteln, das Festival sei mehr als die Summe seiner Teile. Dass dessen Herzstück, der Wettbewerb, unter dem Regime dieses charmanten Tausendsassas bedrohlich an Profil verlor, schien zunächst offenbar nur sauertöpfische Journalisten zu genieren. Fraglos gebrach es ihm an der hartleibigen Cinéphilie seines Vorgängers de Hadeln. Betrieb er seine Programmpolitik noch aus der Haltung eines Filmförderers heraus, der ein Projekt erst einmal auf seine Themen abklopft, auf seine gesellschaftliche Relevanz und seine kommerziellen Möglichkeiten? In die Verlegenheit, sich mit seinem ästhetischen Potenzial auseinanderzusetzen, gerät man in diesem Metier ja eher selten. Kosslick hatte eher das Publikum als die Kritik im Auge. Um nicht ganz von der Preisvergabe überrascht zu werden, half es manchmal, den späteren Gewinnerfilm nicht in der Pressevorführung, sondern in der Galavorstellung zu sichten. Die stehenden Ovationen, die etwa »Esmas Geheimnis« oder »Cäsar muss sterben« erhielten, ließen die Juryentscheidungen nachvollziehbarer erscheinen. Kosslick besaß großes Geschick, kluge Jurys und unberechenbare Präsidenten zu ernennen. 

Die Kluft, die zwischen ihm und großen Teilen der Filmkritik herrschte, war nicht unüberwindbar. Er war zugänglich, zog Konsequenzen aus Irrtümern und Misserfolgen. Die Eröffnungsfilme wurden mit der Zeit hochkarätiger; an die Stelle von menschlich erhebendem Kitsch wie »Man to Man« traten »True Grit« und »The Grand Budapest Hotel«. Das osteuropäische Kino, das lange marginalisiert war, gewann wieder an Präsenz. 2009 erreichte der Wettbewerb einen Tiefpunkt der Beliebigkeit, der sich in der Präsenz von neun Filmen zeigte, die außer Konkurrenz liefen, und darin mündete, dass bei der Preisverleihung zahlreiche Preise aus Ratlosigkeit ex aequo vergeben wurden. Zwei Jahre später feierte die Berlinale mit dem Goldenen Bären für Asghar Farhadis »Nader und Simin – Eine Trennung« ein triumphales Comeback. Da gelang etwas, das meist nur Cannes und Venedig schaffen: einen Autorenfilm mit populärer Ausstrahlung auszuzeichnen, der auch den Zuspruch der Kritik hat. 

Als im November 2017 ein Brief an die Öffentlichkeit kam, in dem rund 80 deutsche Filmemacher der Kulturministerin Monika Grütters ihre Sorge um einen drohenden Bedeutungsverlust des wichtigsten deutschen Filmfestivals ausdrückten, muss dessen Direktor dies als schwere Kränkung empfunden haben. Er warf den Unterzeichnern Undankbarkeit vor: Über 1300 deutsche Filme habe er auf der Berlinale gezeigt (eine Zahl, die man auch beängstigend finden kann), drei Goldene Bären hätten sie gewonnen, fast ein Dutzend Silberne Bären und eine Reihe von Alfred-Bauer-Preisen. Damit schmückt er sich, als habe er sie selbst vergeben. Vielleicht sprach daraus noch das Selbstverständnis des Filmförderers, der sich als Wohltäter sieht. 

Er geht nicht gern, hätte sich wohl den Titel eines Ehrendirektors gewünscht, nachdem klar war, dass sein Vertrag nicht verlängert würde. Auch sein Vorgänger de Hadeln räumte 2001 den Posten nicht freiwillig. Dieter Kosslick weiß sein Vermächtnis aber klug zu bewahren. In den diesjährigen Wettbewerb hat er lauter alte Bekannte eingeladen, Filmemacher, die auf der Berlinale großgeworden sind, wie Isabel Coixet, Hans-Petter Molland, François Ozon und Wang Quan'an, und solche, die hier wichtige Erfolge feierten, wie Fatih Akin und Agnieszka Holland. Gleichviel, ob 2019 ein guter oder schlechter Jahrgang wird: Wir dürfen einem Familienfest mit vielen Gästen entgegenblicken, die Grund haben, der Berlinale und ihrem Leiter dankbar zu sein.

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