Venedig 2015: Triumph für Lateinamerika

Mit der Verleihung des Goldenen Löwen an den venezuelanischen Film »Desde allá« (»From Afar«) ging am Wochenende das 72. Filmfestival von Venedig zu Ende

Venedig ist das älteste Filmfestival seiner Art, aber auch hier gilt, dass Alter nicht vor Überraschungen schützt. Mit dem Goldenen Löwen für das venezuelanische Drama »Desde allá« (»From Afar«) ging tatsächlich zum ersten Mal in der Festivalgeschichte die höchste Auszeichnung nach Lateinamerika. Als der Jury-Vorsitzende, der mexikanische Regisseur und Oscar-Preisträger Alfonso Cuarón (»Gravity«) die Entscheidung verkündete, war das Erstaunen zunächst groß. Den Film des Regiedebütanten Lorenzo Vigas, der eine schwierige Männerbeziehung zwischen Gewalt, Missbrauch und Rache zeigt, hatten die Wenigsten als Preiskandidaten auf dem Schirm. Doch über die anfänglichen Buhrufe hinweg setzte sich schnell die Erkenntnis durch, dass mit dem lateinamerikanischen Preisträger das stets sehr euro-lastige Festival nun eine längst fällige Öffnung vollzieht.  

Mit dem Silbernen Löwen für die beste Regie an den Argentinier Pablo Trapero konnte ein weiterer Südamerikaner einen der Hauptpreise gewinnen. Zwar hatte Traperos »El clan« (»The Clan«) das Publikum am Lido eher gleichgültig gelassen. Die Verfilmung des wahren Kriminalfalls um einen schrecklichen Patriarchen, der brutale Menschenentführungen als lukratives Familiengeschäft betrieb, ist in Argentinien selbst aber bereits ein Kassenhit. Interessanter Weise schneidet er wie »From Afar«, der Goldene-Löwe-Preisträger aus Venezuela, das Thema der übermächtigen, gewalttätigen Väter an, stellvertretend für das totalitäre Erbe der Militärdiktaturen, deren Folgen auf dem ganzen Kontinent noch zu spüren sind.      

Als einer der großen Höhepunkte des Festivals war »Anomalisa« von den US-Amerikanern Charlie Kaufman und Duke Johnson gefeiert worden. Entsprechend groß war der Jubel über die Vergabe des Großen Preises der Jury, sozusagen der Silbermedaille des Festivals, an den Animationsfilm, der mit den »kindlichen« Mitteln der Puppen- und Stop-Motion-Technik ein ausgesprochen erwachsenes Drama über Einsamkeit, Midlife-Crisis und Entfremdung erzählte. Unter den im Großen und Ganzen eher konventionellen Beiträgen dieser 72. Ausgabe des venezianischen Festivals, stellte »Anomalisa« damit einen der originellsten und innovativsten Filme dar.

So wenig sich von heute aus vorhersagen lässt, welche Filme letztlich im Gedächtnis bleiben werden - als herausragend wird der Jahrgang 2015 jedenfalls nicht in die Festivalgeschichte eingehen. Auch der Coup der letzten Jahre, als hier in Venedig mit Alfonso Cuaróns »Gravity« oder mit Alejandro Inárrittus »Birdman« das Oscarrennen eröffnet wurde, lässt sich nicht wiederholen. Cary Fukunagas Drama über afrikanische Kindersoldaten, »Beasts of No Nation« machte weniger als Film von sich reden, als mit der Tatsache, dass es die erste Produktion war, mit der sich der Streamingdienst Netflix bei einem der großen Filmfestivals präsentierte. Immerhin konnte der 14-jährige Hauptdarsteller, Abraham Atta aus Ghana, den nach Marcello Mastroianni benannten Preis für das herausragende junge Schauspieltalent entgegennehmen. Eine Auszeichnung, die allgemein als mehr als verdient empfunden wurde.

Zu bieder, ausgewogen und trotz heißer Themen sehr geordnet war es ansonsten auf diesem 72. Festival von Venedig zugegangen. Der Rest der Preisvergaben spiegelt genau das wieder. Mit dem türkischen Film »Abluka« (»Frenzy«), einem Drama um zwei Brüder zwischen Paranoia und Bürgerkrieg, übergab die Jury ihren Spezialpreis an einen Beitrag, der seine brandaktuellen Bezüge auf die türkische Gesellschaft in einer allzu mysteriös geratenen Erzählung verbirgt. Gleich zwei Auszeichnungen gingen an das französische Gerichtsdrama »L'Hermine«. Hauptdarsteller Fabrice Luchini erhielt die Coppa Volpi als bester Schauspieler, Christian Vincent wurde fürs Drehbuch geehrt. Wunderbar gespielt und gut geschrieben ist der Film aber wenig mehr als ein anrührend-amüsantes Stück Kino, das in seiner Zeitlosigkeit fast schon altmodisch erscheint. Als beste Schauspielerin wurde die Italienierin Valeria Golino in »Per amor vostro« ausgezeichnet und so sehr ihre Darstellung überzeugt, steht doch fest, dass der Film keine Spuren über Italien hinaus hinterlassen wird.

Entdeckungen waren in diesem Jahr eher in der Nebensektion »Orrizonti« zu machen. Dort gingen die Hauptpreise ausgerechnet an zwei amerikanische Filme, die weitab von Hollywood entstanden sind: Bester Film wurde hier »Free In Deed« von Jake Mahaffy. Die Preise für die Beste Regie und das Beste Debüt gab es für Brady Corbets »The Childhood of A Leader«. Corbet, der sich als Schauspieler sowohl im amerikanischen Independent als auch im europäischen Autorenfilm bereits einen Namen gemacht hat, gab in seiner Dankesrede seiner kleinen Tochter das Motto »Be radical, be patient, be free« auf den Weg. Mehr Radikalität, Geduld und Freiheit – das wünscht man sich auch für die Zukunft des Festivals von Venedig.

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