Kuss und Kino

Kuss und Kino

Wie bringt man mehr als 110 Jahre deutsche Filmgeschichte in einen 100 Minuten langen Film? Die Dokumentation Auge in Auge - Eine deutsche
Filmgeschichte hat es versucht, mit Interviews und klugen Montagen.

 Im August 1976 starb der Regisseur Fritz Lang, im Alter von 85 Jahren, in Hollywood. Zur selben Zeit drehte Wim Wenders seinen Film Im Lauf der Zeit entlang der deutsch-deutschen Grenze. Er handelt von einem Mann, Bruno, der in dieser Gegend mit dem Lkw herumfährt und Projektoren repariert, und
einem anderen Mann, Robert, der in einer Beziehungskrise steckt. In diesem Film gibt es eine schöne Reminiszenz an den gerade verstorbenen Regisseur
von Metropolis und Das Testament des Dr. Mabuse. Robert nimmt ein Foto in die Hand, aus Jean-Luc Godards 1963 entstandenem Film Die Verachtung: Lang spielt darin einen Regisseur, dessen Projekt scheitert - so wie auch viele Filme von Lang zumindest künstlerisch scheiterten, vor allem seine späten,
deutschen. In einem Nachruf hat Wenders Lang einen »verpassten Vater« genannt.

In Auge in Auge spricht Wenders ausführlich über einen Film von Fritz Lang, über M - Eine Stadt sucht einen Mörder, vielleicht Langs bester. Er lobt vor allem die ästhetische Brillanz, die Ideen in den Bild- und Tonmontagen, die Gestaltung einzelner Sequenzen, jene »kühlen und scharfen Bilder«, wie es schon in seinem Nachruf hieß. Zehn Filmemacher - sieben Regisseure, einen Kameramann, einen Drehbuchautor und einen Schauspieler - haben Michael Althen, Filmredakteur und -kritiker bei der »Frankfurter Allgemeinen«, und Hans Helmut Prinzler, der ehemalige Leiter des Filmmuseums Berlin, gebeten, in Auge in Auge über jene deutschen Filme zu sprechen, die sie besonders beeindruckt haben. »Es sollten Leute sein«, erzählt Hans Helmut Prinzler, »von denen wir wussten, dass sie sich in Filmgeschichte auskennen, die aber auch die Fähigkeit besitzen, das zu vermitteln. Und es sollten auch Leute sein, zu denen wir ein bisschen eine persönliche Beziehung haben«. Tom Tykwer erinnert sich, wie er als Kind zum ersten Mal den Vampirfilm Nosferatu von Friedrich Wilhelm Murnau sah, im Fernsehen, es nicht mehr ausgehalten hat und sich im Bett verkroch - und so den erlösenden Schluss verpasste. Andreas Dresen spricht über Solo Sunny von Konrad Wolf und kann noch ganze Dialogpassagen auswendig, etwa wenn die Sängerin Sunny ihren nächtlichen Liebhaber herausexpediert: »Is ohne Frühstück.« Und wenn er sich dann beschwert, sagt: »Is auch ohne Diskussion.« In einem der schönsten Gespräche reflektiert Hanns Zischler über Alexander Kluges Abschied von gestern und wie er in diesem Film die Atmosphäre der sechziger Jahre wiederfindet, das Kalte, Unwirtliche und Autoritäre. Und er lobt den Schauspieler Alfred Edel, der mit diesem Film debütierte: »oscarreif!«

Hanns Zischler spielte den Robert in Wenders' Im Lauf der Zeit, und dieser Film handelte auch von einem Kino, das im Sterben oder fast schon in der Agonie lag und das seine eigene Geschichte nicht mehr kannte. Diese Situation hat sich, Gott sei Dank, verändert. Unser Kulturminister wird nicht müde, in jeder Rede sein »Wir sind wieder wer im Film« zu betonen. Aber Filmgeschichte? Wenn der deutsche Film heute wieder sexy ist - die deutsche Filmgeschichte ist immer noch eine terra incognita und im schulischen Curriculum ein Desiderat. Der Kinemathekenverbund hat deshalb vor einigen Jahren eine Liste der 100 wichtigsten deutschen Filme erarbeitet. Später hat eine Expertenrunde den sogenannten »Filmkanon« zusammengestellt. Die meisten der von den »Paten« ins Spiel gebrachten Filme sind »Kanonfilme«, stehen auf der einen oder anderen Liste, auch Die Ehe der Maria Braun von Rainer Werner Fassbinder, über den dessen Kameramann Michael­ Ballhaus nicht ganz uneitel spricht. »Diejenigen, die sich für Filmgeschichte interessieren«, so Prinzler, »sollen auch einen
Teil wiedererkennen. Wenn das alles fremde Bilder wären, würde der Film ja nicht funktionieren. Es muss ein Stück Wiedererkennung da sein, aber auch
ein Stück Überraschung des noch nicht Gesehenen. Daraus kann der Wunsch entstehen, Filme, die man noch nicht gesehen hat, zu sehen oder solche, die
man schon kennt, noch einmal anzuschauen. Wenn mir Zuschauer sagen, ach, den Film müsste ich noch einmal wieder sehen, betrachte ich unseren Film
als einen Erfolg.« Bei einer Auswahl von zehn Filmen wird es immer welche geben, die man vermisst, oder solche, die man als zu bekannt abtun kann.
Althen und Prinzler legen Wert auf die Feststellung, dass ihr Film deswegen auch eine deutsche Filmgeschichte im Untertitel heißt. Michael Althen: »Die
Auswahl der Filme war eine Mischung aus Spielerei und Notwendigkeit. Bei den zehn Filmen, die die Paten vorstellen, hatten wir uns natürlich schon überlegt, welche Filme sollten nach Möglichkeit dabei sein, und hatten ihnen eine Liste vorgelegt, an die sie sich halten konnten - von der sie sich aber auch entfernen konnten«. Was Dominik Graf mit Rocker von Klaus Lemke (auf DVD erschienen, epd Film 9/07) getan hat, der einzig wirklich unbekannte Film unter den zehn vorgestellten. Das Wichtige an den Interviews aber ist: Man merkt, was diese Filme den Paten bedeuten und mit welcher Leidenschaft sie darüber sprechen. Kinoleidenschaft. Christian Petzold stellt Käutners Unter den Brücken (1944) vor, jenen »Desertationsfilm«, wie er es nennt, eine Dreiecksgeschichte, völlig
unbeeindruckt von der Realität des zusammenbrechenden »Dritten Reiches«. Sehr einfühlsam beschreibt er die Szene, in der Carl Raddatz Hannelore
Schroth die Geräusche des Flusses erläutert - eine der intensivsten Szenen des deutschen Films überhaupt. Da merkt man, dass die deutsche Filmgeschichte auch unsere Geschichte sei, wie es etwas pathetisch am Ende von Auge in Auge heißt.

Aber es kommen in Auge in Auge nicht nur die Filme vor, die die Paten vorstellen und deren Zeitrahmen Anfang der achtziger Jahre mit dem von Caroline Link präsentierten Heimat-Opus endet. Insgesamt sind es genau 253. Zu den schönsten Momenten der Doku gehören ungefähr dreiminütige Passagen (Montage: Tobias Streck) durch die Filmgeschichte, motivisch geordnet und rhythmisch montiert. Zu Themen wie Augen der Männer, Blicke der Frauen, Küssen, Telefonieren und Rauchen. Das ist zum Teil ungemein amüsant, immer aber aussagekräftig und gerade beim Rauchen sehr hübsch verzahnt. Zum anderen gibt es noch eine klassische Ebene, auf der Prinzler und Althen den Film der NS-Zeit und den der DDR referieren. »Wir haben eine dritte filmhistorische Ebene benötigt: So verführerisch das Spiel ist, alles in einen Topf zu werfen und assoziativ und motivisch die Filmgeschichte zu betrachten, so läuft man doch Gefahr, dass die Geschichte frivol wird«, so Althen.

Was ist denn nun deutsch an der deutschen Filmgeschichte? Ist es das Schwere, Tiefe, Melodramatische, ja gar Faustische? Auch Murnaus Faust-Stummfilm kommt natürlich vor. Wim Wenders erzählt, dass er vor dem Deutschen in die USA geflohen ist. Der Film gibt auf diese Frage, glücklicherweise, keine so eindeuige Antwort. Viele der ausführlich vorgestellten Filme handeln vom Unterwegssein, die Sängerin auf Tournee in Solo Sunny, die beiden Flussschiffer und ihre große Liebe in Unter den Brücken, die Odyssee von Anita G. durch Frankfurt in Abschied von gestern, die Reise durch das Ruhrgebiet in Wenders' Alice in den Städten, den Do­ris Dörrie vorstellt. Menschen auf der Suche, auf der Flucht - vielleicht hat das auch etwas zu bedeuten. Ein bisschen sehr »deutsch« wird es dann doch am Ende des Films, der den Bogen schlagen soll zu den Anfängen der Filmgeschichte, zu den Brüdern Skladanowsky, die schon ein paar Wochen vor den Lumieres den Bildern das Laufen beibrachten. Der Film - ­eine deutsche Erfindung? Das dann doch nicht. Die Apparate und Filme der Skladanowskys waren eine Sackgasse, technisch unausgereifte Bastelstücke von Schaustellern. Aber die vertanen Chancen gehören eben auch zur deutschen Filmgeschichte.

Rudolf Worschech

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