Kritik zu Sun Children

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Für Kinder oder mit Kindern? Egal. Majid Majidis Film um vier Teheraner Straßenjungen, die sich aus ­geschäftlichen Gründen in einer Schule einschreiben müssen, hat genug Energie für jedes Publikum

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Ali gräbt. Schweiß läuft ihm übers Gesicht, Schlamm klebt an seinem Shirt. Und es ist ziemlich unheimlich hier unten in dem halb verschütteten, feuchten Gang, der vom Keller der Schule zu einem Friedhof führt. Dort soll ein Schatz liegen; der zwölfjährige Ali will ihn mit seinen Freunden bergen. Die vier Jungen kommen aus Familien, die sich nicht kümmern können, sie leben in Teheran mehr oder weniger auf der Straße und arbeiten für einen lokalen Boss; anfangs hat man gesehen, wie sie in einem Parkhaus Autoreifen klauen und einem vorzeitigen Recycling zuführen. Um in die Schule zu gelangen, musste die kleine Gang sich einschreiben. Nun pauken die Jungen Geschichte und Geometrie. Und treiben nebenher, schwitzend und keuchend, ihre Schatzsuche voran. 

Man kann sich vorstellen, wie dieses Szenario in einen Wohlfühlfilm münden würde: Die Jungen entdecken, unterstützt von verständnisvollen Lehrern, verborgene Talente und schaffen den Ausstieg aus dem Milieu. Aber so schlicht läuft es hier nicht. Der iranische Regisseur Majid Majidi, bekannt für »Kinder des Himmels« und »Das Lied der Sperlinge«  – Filme für Kinder oder mit Kindern? – nimmt sein Publikum, auch das jüngere, für voll. Heißt: Er weckt keine falschen Hoffnungen. Was den Plot betrifft, ist der Film, Majidis erster seit 15 Jahren, eher pessimistisch. Die Schule der »Sun Children« ist ein spendenfinanziertes Gemeindeprojekt, das von ein paar ziemlich erschöpft wirkenden Lehrern, die auch schon mal selbst Hand an die Elektrik des umfunktionierten Hauses legen, mühsam am Laufen gehalten wird; die Fähigkeiten, die Alis Kumpels offenbaren – begnadeter Fußballer, Rechen-As –, nützen ihnen wenig; hinter der Schatzsuche steckt ein vermasseltes kriminelles Geschäft; der dramatische Schluss führt ins Leere. 

Bei alldem hat der Film indes nicht nur den empathischen Blick auf die Details kindlichen oder jugendlichen Lebens, der Majidis frühe Arbeiten auszeichnete; es gibt hier auch Szenen anarchischen Glücks, etwa wenn die Lehrer die wegen Mietrückstands geschlossene Schule von ihren paar Hundert Kids stürmen lassen. Die Inszenierung lässt sich regelrecht befeuern von der Energie dieser Kinder, sie spielt abenteuerliche Elemente und »Action« mit Verve aus und gibt den Bildern eine erdige, sinnliche Textur. Ali (Rouhollah Zamani) ist das, was man im Westen street-smart nennen würde, »gestählt« vom Überleben in prekären Verhältnissen, erfindungsreich, wenn es eng wird – als er mit den Freunden beim Graben entdeckt zu werden droht, als es gilt, eine beim Straßenhandel ertappte Freundin durch die U-Bahn zu navigieren.

Viele der iranischen Filme, die uns im letzten Jahrzehnt erreicht haben, etwa die regelmäßigen Berlinale-Beiträge von Asghar Farhadi oder Mohammad Rasoulof, leben von ausgefeilten Drehbüchern, komplizierten Intrigen, Metaphern und anspielungsreichen Dialogen; sie nehmen die Justiz und den Verwaltungsapparat des Regimes in den Blick und spielen oft im mittleren bis gehobenen Milieu des Teheraner Bürgertums. Majidi kommt aus einer anderen, früheren Filmtradition – er hat seit den 90ern den »iranischen Neorealismus« mitgeprägt. Und er ist kein Dissident, der auf Ausweichmanöver angewiesen ist; seine Filme werden nicht nur auf Festivals gezeigt, »Song of Sparrows« und »Sun Children« waren auch als nationale Beiträge für die Oscars nominiert, im vergangenen Jahr wurde Majidi zum Direktor der Filmabteilung der iranischen Kunstakademie ernannt. Unmittelbare Repression ist in »Sun Children« durchaus präsent – in einer der emotionalsten Passagen des Films wird Alis schließlich doch verhafteter Freundin der Kopf geschoren –, aber der Fokus liegt auf der ökonomischen Situation: Der Iran zeigt sich vor allem als bitterarmes Land des globalen Südens. Gewidmet ist »Sun Children« den 152 Millionen Kindern, die weltweit zur Arbeit gezwungen werden, in Minen, auf Müllhalden oder Sweatshops. Kein Wunder, dass die Form des jugendlichen Abenteuerfilms hier so brüchig wird.

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