Kritik zu Seid einfach wie ihr seid
Als Found-Footage-Film getarntes Kammerspiel, das das Chaos einer dysfunktionalen Patchworkfamilie zeigt
Filmstudentin Willie (Lou Strenger) will für ihr Diplom das erste Wiedersehen zwischen ihrer Mutter Gloria, die die Familie verlassen hat, als Willie noch ein Kind war, und ihrem Vater Jürgen, der sie großzog, drehen. Was die Spannung erhöht: Die Eltern haben sich seit 25 Jahren nicht gesehen und wissen auch nichts von Willies Plänen oder der Anwesenheit des jeweils anderen. Wer in der ersten Einstellung genau hinsieht, ahnt bereits, warum Willie, die eigentlich Flucht und Migration zum Thema ihres Abschlussfilms erkoren hatte, plötzlich obsessiv und im Hauruckverfahren versucht, ihre familiären Traumata aus der Kindheit zu bewältigen. Ihre erste Regieanweisung »Seid einfach wie ihr seid« bereut sie schnell.
Das folgende Chaos ist keine Überraschung. Jürgen (Markus John) bringt unangekündigt Adoptivsohn André und seine Frau Uta (Johanna Gastdorf) mit, die das komplette Gegenteil von Willies flamboyanter leiblicher Mutter (Catrin Striebeck) ist. Letztere erscheint wie gewohnt viel zu spät und will partout ihren gekünstelten Lifecoach-Habitus nicht ablegen. Dass Willie viel zu sehr involviert ist, ihr Freund Männi (Jean Paul Baeck) als Kameramann fungiert, die Technik in den ungünstigsten Momenten streikt und all das in der piefigen Enge des Hauses von Männis Großeltern stattfindet, verstärkt die Spannungen.
Familie ist ein Thema, das Alice Gruia schon lange umtreibt. Als Autorin, Regisseurin und Hauptdarstellerin der schwarzhumorigen Sadcom »Lu von Loser« zeigte sie Familie, Beziehungen und Mutterschaft aus der Perspektive der zynischen Protagonistin Lu. Die Miniserie ist mit das Lustigste und Originellste, was das deutsche TV in den letzten Jahren zu bieten hatte. Ihr Debütspielfilm »Seid einfach, wie ihr seid«, der 2023 beim Filmfestival Max Ophüls Preis Premiere feierte, klotzt weniger mit Pointen, treibt dafür die familiären Konflikte noch rigoroser auf die Spitze. Das von Gruia geschickt genutzte, aber nur behauptete Found-Footage-Konzept assoziieren wir seit »Blair Witch Project« besonders mit dem Horrorgenre. Das passt auch hier, da die Kamera wie ein Brennglas wirkt, unter dem alte Narben aufgerissen werden, verdrängte Gefühle hervorbrechen und so manches Geheimnis ans Licht kommt. Der Film im Film ermöglicht zudem einige amüsante Seitenhiebe auf die Branche.
All die Widersprüche, Verletzungen und der Schmerz, die dem Konzept Familie von Natur aus innewohnen, verstärken sich unter dem permanenten Kamerablick, selbst wenn diese nur zufällig filmt, weil sie niemand abgeschaltet hat, oder Mikrofone Ton aufzeichnen, wenn sich jemand unbeobachtet wähnt. Realistisch und sympathisch macht »Seid einfach wie ihr seid«, dass vieles ausgesprochen und diskutiert, aber kein Konflikt gelöst wird und die Katharsis ausbleibt. Auch wenn die Eskalation stellenweise wie eine Massenkarambolage auf der Autobahn wirkt, von der wir den Blick nicht abwenden können, schimmern zwischen der Dysfunktionalität in den kleienen Momenten auch die Liebe und selbstlose Aufopferung durch, die Familie sein kann und manchmal ist.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns