Kritik zu The Quiet Girl

© Neue Visionen Filmverleih

Auf der Berlinale 2022 gewann Colm Bairéads Film über ein Mädchen, das bei Verwandten zum ersten Mal Geborgenheit erlebt, den Hauptpreis der Sektion »Generation«. Die Nominierung bei den Oscars als bester nichtenglischsprachiger Film belegt, dass sein Reiz weit über den eines Jugendfilms hinausgeht

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»Keiner hat so einen Appetit wie ein Kind. Sie wird euch die Haare vom Kopf fressen.« Viel mehr Sätze braucht es nicht, um klarzumachen, in was für einem Elternhaus die neunjährige Cáit (Catherine Clinch) aufwächst. Sie ist eines unter mehreren Geschwistern, das nächste Baby ist bereits unterwegs. Die Eltern sind mit der Erziehung und dem Betrieb des Hofes überfordert. Da kommt das Angebot von der Cousine der Mutter, dass Cáit den Sommer doch bei ihnen verbringen könne, gerade recht. Und so liefert Cáits Vater (Michael Patric) sie mit den genannten Kommentaren bei den Cinnsealachs ab, einem kinderlosen Paar mittleren Alters. Die Cinnsealachs haben für die Meinung von Cáits Vater wenig Verständnis, sie freuen sich über Cáit. Hier erfährt sie eine Fürsorge, die sie bislang nicht kannte.

»The Quiet Girl« war der erste irische Beitrag, der für einen Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert wurde. Fremdsprachig heißt, dass der Film im Original weitestgehend in der fast schon verloren gegangenen Irisch-Gälischen Sprache gehalten ist (Handlungszeit 1981). Der irische Regisseur und Drehbuchautor Colm Bairéad adaptierte hierfür eine Geschichte der irischen Schriftstellerin Claire Keegan. Ihr Buch »Foster« (dt. »Das dritte Licht«) erschien zunächst als Kurzgeschichte im New Yorker und kurze Zeit später in einer erweiterten Fassung als eigenständiges Buch. 

Inhaltlich hält sich der Film eng an die literarische Vorlage. Während im Buch allerdings Cáit als Erzählerin fungiert und Einblicke in ihre Gedankenwelt gibt, muss man sich diese im Film selbst erschließen. Hier ist Cáit das dem Titel entsprechende stille Mädchen. Warum sie so still ist, darüber kann man nur mutmaßen, doch die Vernachlässigung, die sie erfahren hat, scheint offensichtlich. Die famose Darstellerin Catherine Clinch vermag es, in ihr Spiel eine enorme Aussagekraft zu legen. Ihre Körperhaltung wirkt anfangs verkrampft, zärtliche Gesten, etwa als Eibhlín Cinnsealach (Carrie Crowley) ihr die Haare aus dem Gesicht streicht, scheint sie nicht zu kennen. Ihr Gesichtsausdruck zeigt Verunsicherung und Trauer, die sich dann langsam in Freude wandelt. 

Das Andeuten von größeren Zusammenhängen zieht sich dabei durch den ganzen Film. Einige Szenen am Anfang wurden gegenüber der Vorlage hinzugefügt, um Cáits vorherigen Alltag zu zeigen, vieles muss man sich als Zuschauer:in dennoch selbst ausmalen. Das gilt auch für die Hintergründe der Cinnsealachs. Man erfährt im Laufe des Films, dass sie einen Sohn hatten, der tragisch verunglückt ist. Das Ereignis hat sie offensichtlich geprägt, aber Genaueres wird nicht verraten. Dass sie im Dorf unschönem Gerede ausgesetzt zu sein scheinen, wird ebenfalls nur angedeutet.

Der Qualität des Films tut diese Vagheit keinen Abbruch, im Gegenteil. Dass man als Zuschauer:in über vieles im Unklaren gelassen wird, gibt Raum für die eigene Vorstellungskraft. Sein Erzähltempo gestaltet der Film entsprechend ruhig. Fast wirkt es monoton, wenn immer wieder Alltagsszenen gezeigt werden, etwa wie Cáit Eibhlín in der Küche oder Seán (Andrew Bennett) beim Melken hilft. Es sind kleine Gesten wie ein beiläufig zugesteckter Keks, die die Fürsorge der Cinnsealachs für Cáit zeigen.

Colm Bairéad und Kamerafrau Kate McCullough nutzen darüber hinaus die irische Landschaft für stimmungsvolle Aufnahmen, für lange Einstellungen vom Hof und den umliegenden grünen Wiesen. Zusammen mit der etwas sehr getragen wirkenden Musik wandeln sie damit am Rande des Kitschs. Dass sie nicht abdriften, liegt daran, dass die Figuren nie klischeehaft werden. Weder werden Cáits Eltern als Monster abgestempelt, noch scheinen die Cinnsealachs perfekt zu sein. Gerade Seán wirkt mit seiner schroffen Art zunächst alles andere als fürsorglich. Und doch unterscheidet sich sein Verhalten deutlich von dem von Cáits Vater. Dem Film gelingt es, die Wichtigkeit von Geborgenheit für ein Kind hervorzuheben. Und er zeigt auf, wie kleine Dinge schon ausreichen können, um sie herzustellen.

Meinung zum Thema

Kommentare

Ich verstehe nicht, warum der Film erst ab 12 Jahren freigegeben ist. Ab welchem Alter empfehlen Sie ihn?

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