Kritik zu Hatching

© Capelight Pictures

Wiederkehr des Verdrängten: Die finnische Regisseurin Hanna Bergholm haucht in ihrem Spielfilmdebüt über ein junges Mädchen und dem ihr vermachten Riesenei der Metapher des Flüggewerdens neues Leben ein

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Es ist eine Familie des alltäglichen Grauens, die in der von dunklen Wäldern umgebenen kleinen Siedlung im schmucken Häuschen den Wohlstand lebt: Vater, Mutter, Tochter Tinja und Sohn Tero; das Lächeln in den Gesichtern festgefroren und falsch, die Haare zu blond, die Kleidung zu rosa, zu hellblau. Alle sehen immer aus wie aus dem Ei gepellt und die Einrichtung wirkt wie das Setting eines Foto-Shoots für einen Schöner-Wohnen-Prospekt. In der Tat dokumentiert die Mutter unablässig diese scheinheile Welt in einem jener aseptischen Videoblogs, die das Internet mit der Propaganda von Konsum gleich Glück vollmüllen. Wie zerbrechlich diese Illusion ist, erweist sich eines Tages, als sich ein Rabenvogel ins üppig mit allerlei Glaswaren ausgestattete Wohnzimmer verfliegt und dort ein veritables Scherbengericht niedergehen lässt.

Für die Mutter ist das Grund genug, dem Federvieh den Hals umzudrehen, doch der Rabe ist nicht nur in den nordischen Mythen ein bedeutsamer, mächtiger und weiser Vogel. Sterbend hinterlässt er der 12-jährigen Tinja ein Ei, das diese – da zum einen mitleidigen Herzens und zum anderen einsam und unverstanden – in ihrem Bett ausbrütet. Und nicht nur wächst das Ei zu ungeahnter Größe heran, es schlüpft schließlich sogar eine Kreatur heraus, ein grottenhässlich anzusehendes Vogel-Mensch-Mischwesen, das von Tinja Alli getauft wird. In ihm erkennt die geübte Zuschauerin sogleich die Verkörperung des Tabuisierten und Beschwiegenen. Denn Tinja, dies gilt es hier außerdem noch zu bedenken, steht unter immensem Druck, will oder muss die Tochter doch als Turnerin reüssieren und damit den seinerzeit verletzungsbedingt gescheiterten Lebenstraum der Mutter erfüllen, die sie als Trainerin gnadenlos drillt.

Verschobene Erwartungen, uneingestandene Sehnsüchte – beste Voraussetzungen für eine Wiederkehr des Verdrängten, die sich bekanntermaßen zumeist mit zerstörerischer Wucht vollzieht. Und so ist das, was nun folgt, kein Zuckerschlecken.

In »Hatching«, dem beeindruckenden Spielfilmdebüt der finnischen Regisseurin Hanna Bergholm, feiert das gute alte Creature-Feature in Gestalt eines Coming-of-Age-Horrorfilms Wiederauferstehung, der den Begriff des Flüggewerdens wörtlich nimmt. Dabei geht Bergholm kein geringes Risiko ein, steht und fällt ihr Unterfangen doch mit dem Vermögen der Kreatur, Furcht zu erzeugen. Ein Budget von knapp vier Millionen Dollar erlaubt in dieser Hinsicht keine allzu großen Sprünge. Doch nicht nur überzeugen die animatronischen Spezialeffekte sowie das Maskenbild mit hinreichender Drastik und handwerklich altmodischem Charme. Vor allem wird das Monster in den Augen jener lebendig, die es mit Entsetzen betrachten: Jani Volanen legt den Vater als eine mitleiderregende Miniatur der Hilflosigkeit an und Sophia Heikkilä holt aus ihrem nur vordergründig eindimensionalen Mutter-Part eine Studie tapfer weggelächelter, profunder Enttäuschung und kaum mehr gewagter Hoffnungen heraus. Nichts weniger als fesselnd aber ist die Darbietung von Schauspieldebütantin Siiri Solalinna, die in der Doppelrolle der braven Tinja und des bösen Zwillings Alli keines der beiden gequälten Wesen an wohlfeile Klischees verrät. Mit beeindruckender Sicherheit wechselt Solalinna zwischen zerbrechlich und zornentflammt, zwischen Stärke und Schwäche, während sie zugleich in jeder ihrer Erscheinungsformen eine tiefe Angst vor dem Verlassenwerden und dem Ungeliebtsein flackern lässt. Es ist jene Angst, die den Übergang von der Kindheit ins Heranwachsen prägt und die aus der Erkenntnis entsteht, dass das Nest auf Dauer keinen Schutz bieten wird, weil in der Welt da draußen Küken von Raubvögeln gefressen werden.

Es ist mithin ein ganz normaler Vorgang, von dem »Hatching« handelt; dessen inhärenter Schrecken hier allerdings konsequent zu Ende gedacht und in schlüssige Bilder übersetzt zur Abwechslung einmal die Flügel weit ausbreiten und richtig hoch fliegen darf.

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